«Komplexe Fälle haben zugenommen»
18.02.2022 GesellschaftZwei Jahrzehnte lang war Jacqueline Josi Schulleiterin des IBEM Kander- und Engstligental, auf den 31. Januar hat sie ihre Tätigkeit beendet. Ein Gespräch über ihren Arbeitsbereich, den Integrationsgedanken und die Veränderungen der Gesellschaft.
MARK POLLMEIER
Zwei Jahrzehnte lang war Jacqueline Josi Schulleiterin des IBEM Kander- und Engstligental, auf den 31. Januar hat sie ihre Tätigkeit beendet. Ein Gespräch über ihren Arbeitsbereich, den Integrationsgedanken und die Veränderungen der Gesellschaft.
MARK POLLMEIER
IBEM – ausbuchstabiert steht dieses Kürzel für Integration und besondere Massnahmen in der Volksschule des Kantons Bern. Zwei Jahrzehnte lang organisierte Jacqueline Josi dieses Arbeitsfeld in den Gemeinden Kandersteg und Kandergrund, Frutigen, Adelboden und Reichenbach. Wie andere SchulleiterInnen war sie zuständig für die Personalführung, hielt den Kontakt zur Erziehungsdirektion (heute Bildungs- und Kulturdirektion), nahm administrative Aufgaben wahr und kümmerte sich um die Qualitätsentwicklung, zum Beispiel in Form von Weiterbildungen.
Das Büro des IBEM ist im Widi untergebracht, in der ehemaligen Hauswartwohnung des alten Schulhauses. Dort lagert das Schulmaterial und es gibt Arbeitsplätze für die Lehrpersonen.
Jacqueline Josi, wie muss man sich die Arbeit einer IBEM-Schulleiterin konkret vorstellen?
Jacqueline Josi: Der Auftrag ist der gleiche wie jener der Regelvolksschule. Unser Augenmerk liegt dabei auf Kindern, die Auffälligkeiten zeigen: Wir schauen, dass sie die bestmögliche Unterstützung und Förderung bekommen.
Aber Sie unterhalten dafür keine eigenen Klassen, sondern sind an verschiedenen Volksschulen präsent.
Es gibt eine KBF, eine Klasse zur besonderen Förderung, an der OSS Frutigen. Aber überwiegend sind unsere HeilpädagogInnen vor Ort in den Volksschulen und stehen dort im ständigen Austausch mit den übrigen Lehrkräften.
Und diese HeilpädagogInnen werden immer dann aktiv, wenn sie den Eindruck haben, dieses oder jenes Kind bräuchte vielleicht besondere Unterstützung?
Richtig. Wenn ihnen etwas auffällt, suchen sie das Gespräch mit der Klassenlehrkraft und natürlich mit den Eltern. Gemeinsam wird dann überlegt, ob eine Unterstützung sinnvoll ist und wie diese aussehen könnte. In manchen Fällen wird auch die Erziehungsberatung (EB) mit einbezogen. Wenn es etwa um Legasthenie oder Dyskalkulie geht, also eine Lese-Rechtschreib-Störung oder eine Rechenschwäche, muss dies abgeklärt werden. Das machen dann die Fachleute der EB.
Und dann erhalten die Kinder integrative Förderung, sogenannte IF?
Wenn eine Unterstützung sinnvoll erscheint, kann es eine IF sein, aber auch andere Formen der Förderung. Bei uns arbeiten beispielsweise auch Logopädinnen, die allerdings nicht ständig an den Schulen präsent sind und erst auf Anfrage von Lehrpersonen oder Eltern aktiv werden. Unser Arbeitsfeld ist ja recht vielfältig. Wir sind auch zuständig für Deutsch als Fremdsprache (DAZ), psychomotorische Unterstützung oder Begabtenförderung – das wird gern vergessen.
Damit sind wir beim Thema öffentliche Wahrnehmung. Die Volksschule kennt jeder – wie ist es mit dem IBEM?
In der Bevölkerung wird wohl nicht jeder auf Anhieb sagen können, was sich hinter der Abkürzung verbirgt. Eltern, die Kinder im Schulalter haben, wissen aber, was IBEM ist. Vom Kindergarten an gehen unsere PädagogInnen an die Elternabende, stellen sich dort vor und informieren über ihre Arbeit.
Bekannt zu sein ist das eine, konkret mit dem IBEM zu tun zu haben, etwas ganz anderes. Wie reagieren Eltern, wenn Sie wegen einer Förderung mit ihnen Kontakt aufnehmen?
Es ist sicher der tiefe Wunsch aller Eltern, dass ihr Kind gut und unkompliziert durch die Schulzeit kommt. Insofern kann es für Eltern schwierig sein, die Situation zu akzeptieren – gleichzeitig aber auch unterstützend und entlastend.
Sprich: Es gibt manchmal auch Widerstand gegen die Vorschläge des IBEM. Wie reagieren Sie, wenn Eltern den Förderbedarf ihrer Kinder nicht wahrhaben wollen?
Zunächst möchte ich betonen: Insgesamt ist der Kontakt zu den Eltern sehr gut. Wir versuchen immer zu verdeutlichen, wofür wir arbeiten: für das Wohl des Kindes, der Eltern und der Schule. Mir gefällt in dem Zusammenhang die Formulierung «unterwegs sein». Unsere Arbeit ist ein Prozess, an dem viele beteiligt sind. Wir arbeiten gemeinsam daran, eine Situation zu verbessern.
Manche Eltern haben vielleicht Angst, dass ihr Kind mit einer bestimmten Diagnose quasi einen Stempel aufgedrückt bekommt.
Das mag sein, aber in gewissen Situationen ist eine Diagnose wichtig. Einige Massnahmen werden erst mit einer Diagnose möglich, etwa angepasste Rahmenbedingungen oder bestimmte Formen der Unterstützung.
Erweitern wir den Rahmen etwas. In Teilen der Gesellschaft gibt es grundsätzliche Vorbehalte gegen «den Sozialbereich». Mancher hat den Eindruck, diese Branche wachse unaufhörlich, suche sich ständig neue Arbeitsfelder und blähe sich immer mehr auf.
Ich kann hier nur für das IBEM sprechen. Unser Lektionenpool, also die Anzahl der verfügbaren Lektionen, ist seit Jahren nahezu gleichgeblieben. Die Ausstattung und Grösse des IBEM wird alle drei Jahre von der Bildungs- und Kulturdirektion festgelegt. In den Gemeinden, für die wir zuständig sind, ist die Situation stabil.
Gilt das auch für die Zahl der SchülerInnen, die sie betreuen?
Hier muss man differenzieren. Die Zahl ist in den letzten Jahren etwa gleich geblieben – ich stelle jedoch eine Zunahme komplexer Fälle fest.
Was heisst das?
Die Schulen sind ja letztlich ein Abbild der Gesellschaft, und die ist eben komplexer geworden. Für mich ist klar: Das Leben fordert Heranwachsende heute in einem ganz anderen Masse als vor wenigen Jahrzehnten.
Man denke nur an die technische Entwicklung.
Die ist das eine, aber auch das gesellschaftliche Umfeld ist heute ein völlig anderes. Wir haben viel mehr Migration, die Mobilität ist insgesamt grösser geworden, viele Beziehungen halten nicht mehr ein Leben lang. Es liegt auf der Hand, dass all diese Entwicklungen sich auch an den Volksschulen zeigen. Die Klassen sind heute viel heterogener, die Arbeit der Lehrpersonen anspruchsvoller.
Diese Realtität wirkt sich vermutlich auch auf die Arbeit des IBEM aus ...
Auch wir sind davon betroffen, ja. Und weil die Zahl der verfügbaren Lektionen gleich geblieben ist, müssen wir schauen, wie wir diese Ressourcen sinnvoll einsetzen.
Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie hört man immer wieder, wie belastend die letzten Monate für Kinder und Jugendliche waren. Haben Sie das auch in ihrer Arbeit gespürt?
Wir haben generell eine Zunahme psychischer Probleme registriert, auch schon vor Corona. Wenn unsere Massnahmen in solchen Fällen nicht greifen, stellt uns das vor grosse Herausforderungen.
Sie haben vorhin den Bereich Deutsch als Fremdsprache angesprochen. Ist das IBEM auch von der Entwicklung im Asylwesen betroffen?
Der Fremdsprachenbereich ist insgesamt sehr wechselhaft. Das hat mit der Zuwanderung insgesamt zu tun. In touristisch geprägten Gemeinden gibt es immer einen Anteil Arbeitskräfte, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Die Zahlen schwanken, aber auch in diesem Bereich sind unsere Ressourcen in den letzten Jahren etwa gleich geblieben.
Nicht nur in der Gesellschaft, auch von politischer Seite ist Ihr Arbeitsbereich Veränderungen unterworfen. Mit Revos 2020 wird gerade eine Revision des bernischen Volksschulgesetzes umgesetzt. Was hat es damit auf sich?
Künftig werden die Regel- und die Sonderschulbildung unter dem gemeinsamen Dach der Volksschule geführt. Wie bisher gibt es neben den Regelschulen auch heilpädagogische Schulen, an denen Kinder mit Förderbedarf unterrichtet werden. Diese heilpädagogischen Schulen werden nun «besondere Volksschulen» heissen.
Abgesehen vom neuen Namen: Was ändert sich dadurch?
SchülerInnen, die bis jetzt eine heilpädagogische Schule besucht haben und solche, die in der Regelklasse mit Unterstützung einer Integrationsheilpädagogin integrativ beschult wurden, gehören nun zur Volksschule. Das heisst, dass sie nach demselben Lehrplan unterrichtet werden. Die IntegrationspädagogInnen werden nun zum IBEM wechseln.
Revos 2020 ist insofern eine Weiterführung des Integrationsgedankens.
Ja. Wann immer möglich, sollen Kinder an der Regelschule unterrichtet werden. Die HPS Niesen bleibt aber bestehen. Dort werden Kinder weiterhin in eigenen Klassen unterrichtet werden.
Sie selbst werden von dieser Entwicklung nicht mehr betroffen sein: Sie sind nicht mehr im IBEM tätig. Wie blicken Sie auf Ihre Arbeit in den letzten Jahren, wie gehen Sie in den neuen Lebensabschnitt?
Es war eine schöne, intensive Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen, abwechslungsreich und zwischenmenschlich spannend. Ich habe während des Gesprächs gemerkt, wie nah mir der Beruf noch ist: An vielen Stellen habe ich so geantwortet, als wäre ich noch dabei. An die neue Situation werde ich mich also erst noch gewöhnen müssen. Aber das wird mir sicher gelingen: Das IBEM Kander- und Engstligental hat ein kompetentes Team und eine neue, kompetente Schulleiterin.
Interne Nachfolgerin gefunden
Jacqueline Josi war seit 2001 Schulleiterin des IBEM Kander- und Engstligental, das ein Team von rund 30 Personen umfasst. Die meisten von ihnen arbeiten in der integrativen Förderung (IF), andere Arbeitsbereiche sind Psychomotorik, Deutsch als Fremdsprache (DAZ) und Logopädie. Auch Jacqueline Josi ist ausgebildete Logopädin. Berufsbegleitend machte sie eine Zertifikatsausbildung zur Schulleiterin.
Seit dem 1. Februar leitet Nadine Jäger das IBEM Kander- und Engstligental. Die Heilpädagogin gehört dem IBEM-Team schon länger an und kennt den Arbeitsbereich deshalb gut.
Sitzgemeinde des IBEM ist Frutigen; zuständig ist die Frutiger Schulkommission unter der Leitung von Gemeinderat Christof Pieren.
POL