«Meine Sorgen waren unbegründet»
22.02.2022 KanderstegGestern Montag ist Doris Kallen wieder in der Schweiz gelandet. Drei Wochen arbeitete die Kanderstegerin an den Olympischen Spielen in China für den Internationalen Skiverband FIS. Kurz vor dem Rückflug schildert sie ihre Eindrücke – und erzählt von Sprachbarrieren und chinesischem ...
Gestern Montag ist Doris Kallen wieder in der Schweiz gelandet. Drei Wochen arbeitete die Kanderstegerin an den Olympischen Spielen in China für den Internationalen Skiverband FIS. Kurz vor dem Rückflug schildert sie ihre Eindrücke – und erzählt von Sprachbarrieren und chinesischem Zmorge.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Doris Kallen, Sie haben drei Wochen in China gelebt und gearbeitet. Wie kamen Sie mit den Leuten und dem Land zurecht?
Doris Kallen: Für jede Delegation waren vor Ort Personen, die bei der Organisation und der Administration mithalfen. Dank deren Hilfe haben wir uns relativ schnell zurechtgefunden. Die Chinesen sind wahnsinnig lieb, winken einem zur Begrüssung auch nach drei Wochen noch genauso begeistert zu wie am ersten Tag. Die Unterschiede der Kulturen sind schon spürbar, aber es lebt sich problemlos zusammen, solange man sich Zeit nimmt, einander zuzuhören und sich auch zu erklären.
Sie reisten in ein Ihnen völlig unbekanntes Land, in dem auch Corona ein Dauerthema war. Wie hat die Pandemie Ihren Aufenthalt beeinflusst?
Vor der Anreise war die Spannung gross. Allerdings muss ich sagen, dass alle Unsicherheiten nur durch negative Aussagen im Umfeld und vor allem durch kritische Medienberichte ausgelöst wurden. Meine Vorfreude wurde dadurch etwas getrübt. Es gab aber überhaupt keinen Grund zur Sorge. Schon die Anreise war ein Erlebnis. Meine Sitznachbarin im Flugzeug war eine amerikanische Snowboarderin, die Doppel-Olympiasiegerin wurde, und auf der anderen Seite sass ein ehemaliger österreichischer Alpinfahrer, der an Olympia Silber gewonnen hatte und nun als TV-Experte mitreiste.
Dann standen Sie am Zoll …
Der internationale Flughafen in Beijing hatte ein separates Terminal eröffnet. Wir mussten Belege unserer vorherigen Corona-Tests, den Pass und die Akkreditierung vorweisen und einen neuen PCR-Test machen, was aber zügig voranging. Wartezeiten gab es, bis das Gepäck sortiert war, da wir je nach Disziplin nach Beijing, Yanqing oder Zhangjiakou weiterreisten. Erste sprachliche Barrieren tauchten auf, als wir die freiwilligen Helfer fragten, welcher Bus denn nach Zhangjiakou fahre.
Wie präsent waren die Schutzmassnahmen vor Ort?
Das Testresultat vom Flughafen war negativ und deshalb konnten wir uns gleich mit dem Langlaufteam treffen. Seither gab es jeden Morgen vor dem Frühstück einen Rachenabstrich, was für mich schnell so normal wurde wie der Morgenkaffee. Befremdend war anfangs die Bekleidung der Mitarbeiter im Hotel, im Restaurant, in den Test- und Kontrollstationen und im Flughafen. Alle trugen medizinische Ganzkörperanzüge, inklusive Handschuhen, Schuhüberzügen, Maske, Brille und Visier. Aber nach einigen Stunden im Land wurde auch dieser Anblick normal.
Und wie schmeckte Ihnen das lokale Essen?
Beim Frühstück habe ich mich an dem orientiert, was ich kannte: Kaffee und Toast mit Konfitüre oder Ei. Nach wenigen Tagen merkte ich, dass das chinesische Frühstück mit den «steamed buns» (Teigtaschen), der Gemüsebrühe und/oder Früchten viel besser schmeckt. Im Hotel gab es ein «Chinese Menu» und ein «Western Menu» mit je etwa zehn Gerichten. Hauptsächlich verpflegten wir uns aber im Langlaufstadion, wo wir täglich bis zu zwölf Stunden verbrachten. Die Volunteers, die sich um das Catering kümmerten, waren wahnsinnig freundlich. Das Schweizer Essen habe ich jedenfalls nicht vermisst.
Als Medienkoordinatorin des Internationalen Skiverbandes für den Langlauf hatten Sie fast jeden Tag einen Wettkampf in Zhangjiakou zu betreuen – viel Arbeit und wenig Ruhe?
Die erste Woche war sehr anstrengend. Obwohl das Medienteam und die Athleten die Abläufe eines Wettkampfes gewohnt sind, ist an den Olympischen Spielen alles etwas grösser: das Teilnehmerfeld, die Anzahl Medien, die Protokolle – und auch die Emotionen sind grösser, als wir es uns vom Weltcup-Alltag gewohnt sind.
Erklären Sie uns Ihre Arbeit.
In den ersten Tagen habe ich die Abläufe für die ersten Renntage vorbereitet. Das beinhaltete beispielsweise die Absprachen mit dem TV-Direktor, Besprechungen über Kamerawinkel auf der Rennstrecke oder die Abläufe vor und nach dem Rennen. Geregelt werden musste der Umgang in der «Mixed Zone», in der die Medien nach den Rennen Interviews machen konnten. Hinzu kam die Koordination von rund 30 Live-TV-Sendern sowie etwa 20 Radio- und Online-Stationen plus 90 Plätzen für die schreibende Presse. Es gab Medienkonferenzen zu koordinieren und es musste sichergestellt werden, dass jeweils die Top-3-Athleten die nötigen Vorgaben einhielten: vom Siegerfoto zum Umziehen, dann Flower-Zeremonie, «Mixed-Zone»-Termine, Pressekonferenz, mögliche Anti-Doping-Tests bis zur Medaillenverleihung. Auch die Fotografen wurden instruiert, wie, wann und wo sie sich entlang der Langlaufstrecke bewegen konnten, damit sie das TV-Bild nicht störten.
Und das alles hat geklappt?
Das erste Rennen war wohl noch etwas chaotisch, aber schon beim zweiten lief alles reibungslos. Die Schwierigkeit im Langlauf ist, dass wir viele verschiedene Formate haben, und wenn man den Ablauf nicht kennt, ist es schwierig, diesen im Voraus zu erklären. Ich habe dabei sehr viel gelernt und betrachte vieles nun von einer anderen Seite und kenne andere Herangehensweisen. Ich bin gespannt, wie lange ich diese neuen Erfahrungen in meinem Alltag mitnehmen kann.
Tausende lokale Helfer waren im Einsatz – wie funktionierte die Zusammenarbeit mit ihnen?
Das klappte sehr gut. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine chinesischen Kollegen sehr offen sind für Neues und von Anfang an interessiert waren, sich auszutauschen. Das ist man in unseren Längengraden gar nicht mehr so gewohnt. Sie hatten sich intensiv vorbereitet, sei es zu den Rennformaten und technischen Informationen des Sports oder zum zeitlichen Ablauf. Zu Beginn haben wir sehr viel auf Papier gezeichnet, um auszudrücken, was wir meinen. Aber schliesslich haben wir einen guten Weg der Zusammenarbeit gefunden.
Wir wussten, dass die Sprache eine echte Herausforderung wird. Aber das ging den Chinesen nicht anders, und deshalb haben sie jegliche Systeme eingerichtet. Bei individuellen Gesprächen war immer unsere Übersetzerin dabei oder wir nutzten eine Übersetzungs-App. Hauptsache, man lächelte, winkte beim Vorbeigehen, sagte «xiexie» (chin.: danke) und statt den Daumen hochzustrecken, zeigte man das «OK» mit Zeigefinger und Daumen zu einem Kreis geformt.
Extrem tiefe Temperaturen waren öfter ein Thema. Diese sind in Zhangjiakou offenbar normal – der Schnee hingegen weniger.
Die Region erlebte während den Wettkämpfen tatsächlich den stärksten Schneefall seit vielen Jahren. Für uns ist es normal, die Loipenpräparation umzustellen und damit umzugehen. Die chinesischen Volunteers haben jedoch selten solche Schneemengen erlebt und waren völlig aus dem Häuschen. Sie fotografierten ihre Fussabdrücke im Schnee, und die Leute der Transponderkontrollen haben einen Wettbewerb gemacht, wer das schönste Schnee-Entchen formen kann. Das nenne ich mal Freude an kleinen Dingen! Zum Schmunzeln war ebenfalls, wie die Helfer den Schnee geräumt – oder dies zumindest versucht – haben. Mit Laubbläsern und kleinen Kiesschaufeln kratzten sie ihn zusammen und schaufelten ihn in Plastiksäcke, die neben der Strecke ausgeleert wurden. Das ging den ganzen Tag so!
Sie hatten offenbar Spass bei der Arbeit …?
Absolut. Es war eine fantastische Erfahrung. Dank der Covid-Massnahmen, die recht problemlos in den Alltag integriert werden konnten, erlebten wir eine gute Zeit. Von den «Bubbles», den abgeschotteten Gruppen, war wenig zu spüren, denn unsere Austragungsorte waren komplett abgesperrt vom normalen Tourismus. Ich konnte also meine Kollegen beim Skispringen, Biathlon und Freestlye im Genting-Snowpark besuchen und auch einen Trip mit dem Hochgeschwindigkeitszug nach Beijing zum Big-Air-Wettkampf (Snowboard-Freestyle) machen. Für mich war das einerseits Weiterbildung, andererseits auch eine willkommene Abwechslung, meine Kollegen zu besuchen, mit denen ich zwar fast täglich in Kontakt bin, die ich aber nur ein oder zwei Mal im Jahr sehe. Der direkte Erfahrungsaustausch zwischen verschiedenen Sportarten ist etwas Grossartiges und Einzigartiges an den Olympischen Spielen. Nur die Zuschauer fehlten mir doch sehr, die im Stadion für mehr Stimmung gesorgt hätten.
Vor dem Abflug haben Sie im «Frutigländer» die chinesische Mauer erwähnt, die Sie gern sehen würden. Hatten Sie Erfolg?
Die Mauer wurde zum Fotospot schlechthin, da sie direkt neben einer der Trainingsstrecken entlangführte. Es war zwar ein ziemlich verfallener Teil der Mauer. Doch die Chinesen hatten sie mit LED-Lämpchen inszeniert, die das ganze Zhangjiakou-Gebiet über die Hügelkuppen umrundeten. Abends war man quasi von dieser leuchtenden Wand umgeben. Eine schöne Idee, um die chinesische Identität zu zeigen. Etwas Spezielles war natürlich, dass während den ganzen Spielen das chinesische Neujahr gefeiert wurde – alles war für das Jahr des Tigers dekoriert.
Wie sieht Ihr Fazit dieser drei Wochen aus?
Ich habe sehr viel Geduld gelernt, sehr viel Vertrauen getankt und viele neue Aspekte über meine Arbeit erfahren. Ich habe erfahren, dass man sich ein eigenes Bild machen muss, um etwas beurteilen zu können. Die Verarbeitung wird jetzt zu Hause passieren, wenn ich auf dieses Abenteuer zurückblicken kann. In China versuchte ich, jeden Tag zu geniessen und erlebte Meilensteine mit Athleten und Teams, mit denen ich nun seit vier Jahren im Langlauf-Weltcup unterwegs bin. Da gab es wundervolle Momente, die ich nie im Leben vergessen werde.