Ein aussergewöhnlicher Lebensweg
15.02.2022 FrutigenKeine Klingel. Nur der Briefkasten an der Kanderstegstrasse 24 in Frutigen ist angeschrieben: «Kiev Kids». Sonst weist nichts auf das Hilfswerk hin, das Marek und Nathalie Wnuk gegründet haben. Nach telefonischer Voranmeldung öffnet der gebürtige Pole die Tür und erzählt aus seinem ...
Keine Klingel. Nur der Briefkasten an der Kanderstegstrasse 24 in Frutigen ist angeschrieben: «Kiev Kids». Sonst weist nichts auf das Hilfswerk hin, das Marek und Nathalie Wnuk gegründet haben. Nach telefonischer Voranmeldung öffnet der gebürtige Pole die Tür und erzählt aus seinem ungewöhnlichen Leben – und von seinem Lebenswerk.
KATHARINA WITTWER
Marek Wnuk wurde 1974 in Polen geboren. Im von der Sowjetunion geprägten Osteuropa war Russisch damals ein Pflichtfach. Nach der Lehre als Radioelektriker studierte der junge Mann freikirchliche Theologie und Deutsch. Um Geld zu verdienen, arbeitete er in den Semesterferien einmal in Sibirien als deutsch-russischer Übersetzer. Dieser Sommerjob veränderte sein Leben komplett: Er verliebte sich – fast wie Gilbert Becaud im gleichnamigen Chanson – in eine Reisegruppen-Teilnehmerin namens Nathalie.
Nach der Heirat 1996 wurde Bern zum ersten gemeinsamen Wohnsitz von Marek Wnuk und der in Hongkong geborenen und in Südafrika aufgewachsenen Schweizerin. Da er von der Pfingstmission (Pfimi) in Frutigen das Angebot für eine Praktikumsstelle erhielt, zog das Paar bald nach Frutigen. Auch liess sich Wnuk zum Pastoralassistenten ausbilden. Inzwischen wurden die Sozialpädagogin und der Theologe Eltern. Bevor die Familie im Jahr 2000 in die Ukraine auswanderte, gründeten sie den Verein «Kiev Kids». Wnuks planten, Strassenkindern ein Zuhause zu geben und sie zu resozialisieren. Ihr Wunsch, in der Nähe von Kiev ein Zentrum für ebensolche Kinder zu eröffnen, ging dank Spendengeldern bald in Erfüllung.
Weshalb funktioniert es nicht?
«Alle Kinder, die wir im ‹Sunshine› aufnehmen, leiden unter den Folgen schwerer Misshandlungen, wurden auf alle erdenklichen Weisen missbraucht und mussten viel Schreckliches mit ansehen. Wir dachten, sobald sie ein Dach über dem Kopf haben und ein bisschen Liebe kriegen, würden sie ihr Leben automatisch ändern. Da irrten wir uns gewaltig», gesteht der damalige Heimleiter. Die meisten Kinder schnüffelten weiterhin Leim, um sich daran zu berauschen, gingen auf Diebestour, hauten immer wieder ab oder kehrten ganz auf die Strasse zurück. «Was machen wir falsch?», fragten sich Marek und Nathalie Wnuk. «Warum reagieren die Kinder so?» Die Antwort gab ihnen eine Psychologin aus Deutschland, die zu Besuch war: Weil sie traumatisiert sind.
Traumata hinterlassen im Unterbewusstsein tiefe Spuren. Sobald ein Mensch sich einer schon erlebten Gefahr erneut ausgesetzt sieht, wird er automatisch die «erlernte» Überlebensstrategie reaktivieren: kämpfen oder fliehen. Auch wenn die misshandelten Kinder also ein Dach über dem Kopf haben und gut betreut werden, lässt sich nicht einfach ein Schalter umlegen und alles ist gut.
Traumatherapie als Schlüssel zum Erfolg
Marek Wnuk, inzwischen Vater eines zweiten Kindes, belegte in Deutschland umgehend einen vierjährigen Lehrgang zum Traumatherapeuten. Zu verstehen, warum sich ein traumatisierter Mensch so verhält, wie er es eben tut, ist das oberste Gebot in der Traumapädagogik und gleichzeitig der Schlüssel zum Erfolg. Erst anschliessend kann eine positive Entwicklung eingeleitet werden, nämlich, dass sich die Person sicher fühlt. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann Vertrauen aufgebaut werden. «Als wir diese Grundsätze anwandten, hatten wir Erfolg. Leider gibt es immer Kinder, die zusätzliche psychologische Betreuung benötigen», erklärt Wnuk.
Die Arbeit ist nie zu Ende
Schon bevor die mittlerweile fünfköpfige Familie 2008 in die Schweiz zurückkehrte, hatte sie in der Ukraine einheimische Personen rekrutiert und ausgebildet, die das Heim in ihrem Sinne weiterführen. Gleichenorts haben Wnuks ein Kompetenzzentrum für Traumapädagogik eröffnet. Marek bildet in der Ukraine, in Belarus und Moldawien regelmässig Trauma-Therapeuten aus und gibt Weiterbildungen. «Mein Vorteil ist, dass ich als Pole die sozialen Hintergründe der ehemaligen kommunistischen Länder aus Erfahrung kenne und auf Russisch unterrichten kann.» Bis vor zwei Jahren reiste er jeweils in die entsprechenden Länder, seit Corona findet vieles online statt. Auch kann er auf einheimische Psychologen zählen, die ihr Wissen weitergeben.
Unlängst wurden ukrainische Polizisten im Umgang mit traumatisierten Strassenkindern geschult. «Noch wissen wir nicht, ob sie ihre neu erlernten Erkenntnisse anwenden und wie sie sich auswirken.» Sobald es die Pandemie zulässt, möchte Marek Wnuk Projekte in Kasachstan, Kirgistan und in der Mongolei in Angriff nehmen.
Die bestmögliche Lösung finden
Im Heim können die Kinder bis zum 16. Altersjahr bleiben. Manchmal kann schon früher eine Lösung gefunden werden, zum Beispiel eine Adoption im In- oder Ausland. Einige der jungen Menschen können sogar in ihre Familie zurück, sofern sich die Verhältnisse geändert haben. Als letzte Möglichkeit bleibt die Lebensschule: ein WG-Programm für über 16-Jährige. Die Jugendlichen besuchen von dort aus eine weiterführende Schule oder machen eine Ausbildung. Als Paradebeispiel erzählt Marek Wnuk vom 13-jährigen Iwan*, der ganz Schreckliches erlebt hatte. Er wurde von einem US-amerikanischen Paar adoptiert. Als er in den Staaten ankam, konnte er kein Wort Englisch. Nur ein Jahr später schloss er das Schuljahr als Klassenbester ab.
Das Kinderzentrum «Sunshine» in der Ukraine bietet auch Freizeitprogramme für die Dorfkinder an. Ein Höhepunkt ist das alljährliche Sommerlager für rund 200 Kinder. «Nebst lokalen Pädagogen und Freiwilligen ist das zugleich ein Projekt für meine ganze Familie. Es ist schön zu sehen, mit welcher Freude sich unsere Kinder dort stets engagieren.»
*Name geändert
Der Verein und seine Arbeit
«Kiev Kids» wurde im Jahr 2000 gegründet, um der Not von Strassenkindern in Osteuropa – insbesondere in der Ukraine – entgegenzuwirken. Die Projektleitung liegt in den Händen von Nathalie und Marek Wnuk-Jeannerat. Marek Wnuk ist als Geschäftsführer unter anderem fürs Sammeln von Geld (Fundraising) zuständig, er bildet aus oder organisiert Ausbildungen vor Ort. Nebst dem Engagement im Kinderzentrum «Sunshine» Sommerlagern und Schulungen für Pädagogen nehmen die Verantwortlichen an staatlichen Programmen teil. Auch werden Hilfsgüter an andere Heime und an Familien abgegeben. Die Arbeit basiert auf christlichen Werten, kombiniert mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der Trauma- und allgemeinen Sozialpädagogik. Der Verein ist als gemeinnützige Organisation in der Schweiz anerkannt. Spenden sind vom steuerbaren Einkommen abziehbar.
WI
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