Scheinwirkungen – die Kraft aus dem Nichts
11.02.2022 GesundheitAuch ein wirkungsloses Medikament kann einen Effekt haben, das ist seit der Antike bekannt. Weniger geläufig ist jedoch der gegenteilige Effekt: wenn unerwünschte Wirkungen auftreten, ohne dass diese von einem verabreichten Wirkstoff ausgelöst werden. Der Schlüssel dazu liegt im Kopf. ...
Auch ein wirkungsloses Medikament kann einen Effekt haben, das ist seit der Antike bekannt. Weniger geläufig ist jedoch der gegenteilige Effekt: wenn unerwünschte Wirkungen auftreten, ohne dass diese von einem verabreichten Wirkstoff ausgelöst werden. Der Schlüssel dazu liegt im Kopf.
Die positive und die negative Beeinflussung einer Therapie sind in der Medizin bekannte Phänomene. Hoffnungsvolle Erwartungen können zu einer besseren Wirksamkeit eines Medikaments führen – oder bei einem völlig wirkstofffreien Scheinmedikament zu einer feststellbaren Wirkung führen. Placebo-Effekt wird dies genannt (lat. placere = gefallen; placebo = ich werde gefallen).
Wenn umgekehrt bereits die Erwartung, unangenehme Folgen zu erleben, Schmerzen oder andere negative Nebenwirkungen auslöst, ist dies dem Nocebo-Effekt zuzuschreiben (lat. nocere = schaden; nocebo = ich werde schaden). Eine Spritze mit der Bemerkung «jetzt spüren sie gleich einen Stich» wird als schmerzhafter empfunden, als wenn sie mit dem Versprechen verabreicht wird, dass die Beschwerden sich gleich bessern werden.
Wenn schon der Beipackzettel krank macht
Erwünschte wie unerwünschte Beeinflussung sind feste Teile jeder Therapie. Ein ganz wesentlicher Faktor, um die Wirkung positiv zu beeinflussen, ist die Zuwendung und das empathische Gespräch mit dem Patienten. Der amerikanische Arzt und Friedensnobelpreisträger Bernard Lown schrieb in seinem Buch «Die verlorene Kunst des Heilens»: «Worte sind das mächtigste Werkzeug, über das ein Arzt verfügt. Sie können sowohl tief verletzen als auch heilen.»
Dagegen sind die meterlangen, klein bedruckten Beipackzettel von Medikamenten bekannterweise für viele unerwünschte Nocebo-Effekte verantwortlich. Beim Studieren der Vielzahl von Nebenwirkungen, Wechselwirkungen und angebrachter Vorsichtsmassnahmen ist schon manchem übel oder schwindlig geworden, beim anderen hat die Haut zu jucken begonnen, bevor er das Medikament überhaupt genommen hat.
Hersteller sind jedoch verpflichtet, jede bekannte und festgestellte Nebenwirkung zu vermerken, auch wenn sie noch so selten auftritt. Aus dieser Optik muss die Patienteninformation Grunde genommen eher als juristisches denn als medizinisches Dokument gelesen werden …
Wer Nebenwirkungen erwartet, bekommt sie auch häufiger
In der Arzneimitteltherapie haben Placebo- und Nocebo-Effekte eine grosse Bedeutung. Bis zu 70 Prozent der Symptomverbesserungen sollen auf unspezifischen Placebo-Effekten beruhen. In der klinischen Forschung treten in Placebogruppen vergleichbare Nebenwirkungen auf wie jene, die durch den echten Wirkstoff ausgelöst werden. Anlass genug, dem Phänomen auf den Grund zu gehen.
Es gilt als erwiesen, dass nicht die reine Einbildung dafür verantwortlich ist. Die Effekte basieren auf verschiedenen bewussten und unbewussten Faktoren, bei denen Psychologie und neurologische Abläufe im Gehirn eine zentrale Rolle spielen und sich gegenseitig beeinflussen. Die beiden Hauptmechanismen sind die persönliche Erwartungshaltung sowie Vorerfahrungen (Konditionierung). Individuelle Überzeugungen, Hoffnung auf Linderung, das therapeutische Umfeld, Erfahrungen von Bekannten oder ein positives Gespräch mit dem Arzt sind wichtige Elemente, die eine Wirkung fördern können.
Die Konditionierung basiert auf sogenannten Reizreaktionsmustern, die einen gelehrt haben, dass ein Medikament (Reiz) eine erwünschte Wirkung entfaltet und Linderung bringt (Reaktion des Organismus).Wer immer rote, ovale Tabletten aus einer bekannten Packung eines bestimmten Herstellers mit einem prägnanten Logo gegen Schmerzen einnimmt, baut ein Vertrauen in deren Wirkung auf. Untersuchungen mit identisch aussehenden Scheinmedikamenten konnten zeigen, dass diese auch ohne Wirkstoff zu einer Schmerzlinderung führen können. Umgekehrt wird in der Praxis von einigen Patienten ein Mittel, das anders aussieht, oft als «schlechter» und weniger wirksam taxiert, obwohl es die gleiche Wirkstoffmenge enthält.
Studien zufolge wirken farbige Pillen effektiver als weisse, kleine und grosse besser als mittelgrosse und Kapseln besser als Tabletten. Auch das Aussehen hat einen Einfluss auf die Art der Wirkung: Blaue Pillen werden als beruhigender empfunden, rote als anregender. Schmeckt eine Tablette nach bitterer Medizin, kann das den Effekt zusätzlich verstärken.
Alles nur Einbildung – oder doch nicht?
Scheinwirkungen oder -nebenwirkungen auf rein psychologische Phänomene zu reduzieren, greift jedoch zu kurz: Es kommt dabei nicht nur ein einzelner Effekt, sondern vielmehr die Aktivierung neuronaler Netzwerke im Gehirn zum Tragen. Ein bestimmter Reiz, etwa das vertraute Aussehen einer Tablette, stimuliert bestimmte Hirnstrukturen, die über das vegetative Nervensystem im Körper bestimmte Prozesse steuern. Die neurophysiologischen Reaktionen im Gehirn sind dank modernen bildgebenden Verfahren nachweisbar. Sie zeigen, welche Hirnregionen auf einen Reiz reagieren.
Viele Untersuchungen mit Schmerzpatienten konnten belegen, dass Placebos die Ausschüttung körpereigener Opiate (Endorphine) stimulieren, die eine schmerzlindernde Wirkung erzeugen. Auch mit «emotionalen» Placebos, die bei Angstzuständen oder Depressionen eingesetzt wurden, konnten angstlösende oder antidepressive Effekte ausgelöst werden.
Auf keinen Fall darf jedoch erwartet werden, dass Placebos ein vollständiger Ersatz für Medikamente sein könnten. Die Voraussetzungen und Umstände, in denen ein Placebo, oft zusätzlich zu einem Medikament und unter ärztlicher Aufsicht, eingesetzt wird, müssen genau auf die zu behandelnde Krankheit abgestimmt werden. Im besten Fall können die Wirkung eines Medikaments optimiert und Nebenwirkungen minimiert werden.
Placebo-Effekte für Therapien nutzbar machen
Als Nebenprodukt aus zahlreichen klinischen Studien fristeten Placebo- und Nocebo-Effekte lange ein Nischendasein. Als eigener Wissenschaftszweig wird die Placebo-Forschung erst seit etwa zehn Jahren betrieben. International einzigartig und führend ist dabei eine deutsche Forschungsgruppe, deren Zusammenarbeit von verschiedenen Universitäten und Fachgebieten seit Jahren mit staatlichen Forschungsgeldern unterstützt wird. Sie befasst sich mit der Aufklärung der Wirkmechanismen von Placebos und Nocebos mit dem Ziel, ihre Effekte eines Tages stärker therapeutisch nutzen zu können und die Patientenbehandlung zu optimieren. Die Erkenntnisse sollen zudem klinische Studiendesigns verbessern, damit die Wirksamkeit neuer Therapien noch besser beurteilt werden kann.
BEAT INNIGER, OFFIZIN-APOTHEKER FPH, ADELBODEN
Info-Links finden Sie in unserer Web-Link-Übersicht unter www.frutiglaender.ch/web-links.html
«Impf»-Reaktionen auf Kochsalzlösung
Im Januar 2022 erschien in einer renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift eine Übersichtsarbeit, die Impfreaktionen von über 45 000 Teilnehmern an 12 klinischen Corona-Impfstudien analysierte. Die eine Hälfte der Teilnehmer erhielt den Impfstoff gespritzt, die Kontrollgruppe eine wirkstofffreie Kochsalzlösung. Die am häufigsten vermeldeten unerwünschten Wirkungen waren Kopfschmerzen und Müdigkeit. Im Verhältnis zu den tatsächlich Geimpften konnten rund drei Viertel (76 Prozent) der Meldungen aus der Kontrollgruppe nach der ersten Impfdosis und etwa die Hälfte (52 Prozent) nach der zweiten Dosis auf einen Nocebo-Effekt zurückgeführt werden: Die Probanden verspürten Nebenwirkungen einer Impfung, die sie gar nicht erhalten hatten.
QUELLE: PTAFORUM /PHARMAZEUTISCHE-ZEITUNG.DE