AUS «ICH» MACH «WIR»
«Habe ich mir heute schon Zeit für mich selbst genommen?» Mit diesesr Frage wurde ich neulich auf dem WC einer hiesigen Lokalität konfrontiert. Mein erster Impuls war natürlich, mich dem flauschigen Gefühl der Eigentherapie hinzugeben und zu ...
AUS «ICH» MACH «WIR»
«Habe ich mir heute schon Zeit für mich selbst genommen?» Mit diesesr Frage wurde ich neulich auf dem WC einer hiesigen Lokalität konfrontiert. Mein erster Impuls war natürlich, mich dem flauschigen Gefühl der Eigentherapie hinzugeben und zu sagen: «Nein, habe ich nicht. Aber ich sollte dringend damit anfangen!» Doch dann fielen mir lauter Situationen ein, in denen ich sehr wohl für mich da bin und mir etwas gönne: die Urlaubsreise zum Beispiel, das Feierabendbier mit Freunden oder das dicke Buch zur Nachtlektüre. Mich überkamen Zweifel: Ist die Frage an der WC-Wand wirklich die, die wir uns heutzutage stellen sollten? Ist es nicht eher so, dass wir schon viel zu lange nur noch um uns selbst kreisen?
Wenn wir ganz ehrlich sind, hatten wir noch nie so viel Zeit für uns wie heute. Die Arbeitswochen werden seit Jahrzehnten kürzer, statt zwölf Kindern hat man heute zwei, und unsere Lebenserwartung ist dank medizinischer Fortschritte so hoch wie nie. Trotzdem nimmt die Bereitschaft, sich sozial zu engagieren, stetig ab. Yoga-Kurse, Achtsamkeitsseminare und Therapien jeglicher Art boomen – und das Ehrenamt stirbt vor sich hin. Hat nicht die Corona-Krise schonungslos jene Wunde offengelegt, an der unsere Gesellschaft am meisten krankt? «Ich will keine Maske tragen, ich hab ein Recht auf Ausgang, mich trifft das Virus ja eh nicht schlimm!» Wo bleibt da noch der Gemeinsinn?
Grosse Probleme lassen sich nicht auf der Ego-Ebene bekämpfen – das ist auch der Hauptirrtum der Achtsamkeitslehre. Ja, viele von uns haben tatsächlich Stress und ernstzunehmende Schwierigkeiten. Die aber haben meist äus sere Ursachen und lassen sich nicht wegmeditieren oder in Schaumbädern ertränken. Wenn die Jobbedingungen mies sind, hilft man mit Achtsamkeit nicht sich selbst, sondern höchstens dem Arbeitgeber. Denn statt die Probleme anzugehen, lernt man nur, sie besser zu ertragen.
Krisen kriegt man nur gemeinsam in den Griff, gesellschaftliche Fehlentwicklungen nur als Gesellschaft. Die Frage im WC sollte also eigentlich lauten: «Habe ich mir heute schon Zeit für uns genommen?»
BIANCA HÜSING (MACHT SELBST GERN YOGA UND ENGAGIERT SICH AKTUELL ZU WENIG)
B.HUESING@FRUTIGLAENDER.CH