Das Chalet Irène wurde in einem für die Region untypischen Stil gebaut. Über das denkmalgeschützte Gebäude zirkulieren rätselhafte Geschichten. Der «Frutigländer» hat sich auf Spurensuche begeben.

PETER SCHIBLI
Die vierstöckige Villa im Adelbodner Vorschwand mit dem geschwungenen Giebeldach, dem ockergelben Dachhimmel, zwei grossen, rot-schwarzen Veranden aus Holz und mehreren gemauerten Torbögen im Eingangsbereich fällt auf. Spaziergängern, die Richtung Gilbach unterwegs sind, sticht das imposante Wohnhaus oberhalb der Strasse vor dem Hotel Huldi ins Auge. Wer waren die Erbauer, wer die einstigen Besitzer? Wer kennt die Geschichte des prachtvollen Baus?

Deutsche oder Holländer hätten die Residenz zu Beginn des 20. Jahrhunderts errrichten lassen. Im Ersten Weltkrieg hätten sie hier ihre Familien in Sicherheit gebracht, heisst es. Später sei das Chalet von Antroposophen für Weiterbildungsseminare genutzt worden, bevor es angeblich von einem Maler gekauft wurde. In der Villa soll es gespukt haben, wird in Adelboden gemunkelt. Und: In den 70er-Jahren hätten britische Skitouristengruppen dort logiert. Fakten über das Haus in Erfahrung zu bringen, ist indes nicht einfach.

Das Bauinventar gibt Anhaltspunkte
Das Gebäude wurde 2009 von der kantonalen Denkmalpflege inventarisiert und als schützenswert eingestuft. Als Grundlage dienten die Daten der Brandschutzversicherung. Im Bauinventar des Kantons Bern heisst es: «Imposantes Bauvolumen in Mischbauweise unter hohem, expressiv geformtem Giebeldach mit Schleppgauben. Der Dachscherm mit ockergelben Farbresten. Das Obergeschoss ist mit Holzschindeln verrandet; Farbreste in Ockerbraun. Besonderes Augenmerk gilt den variantenreich gestalteten Fronten mittels Eck- oder Standerker, Fenster, eingezogener Veranda, Giebellaube und loggienartig gestaltetem Eingangsbereich. Ausgezeichnete Details sind: kassettierte Fensterläden, Türen, dekorative Fenstergitter, Schnitzzier, mosaikartige Kieselpflästerung im Eingangsbereich etc. Das Wohnhaus am Waldsaum ist von einem naturbelassenen, romantisierenden Garten umgeben. Exzellenter, nahezu unveränderter Bau, der in der Gemeinde einzigartig ist, aus der Zeit des Heimatstils.» Angaben zu einem Architekten fehlen allerdings.

In einer GVB-Broschüre äusserte Professor Dieter Schnell, Experte für Architekturgeschichte und Denkmalpflege, 2018 die Vermutung, das Gebäude sei «von finanzkräftigen Städtern gebaut worden, die sich nicht für das einfache Leben der Bergbevölkerung, sondern für die Schönheiten der Landschaft» interessiert hätten. Mit einem klassischen Chalet habe der Bau formal und konstruktiv nicht viel zu tun, eher mit einem Erstwohnsitz. Entstanden sei die Villa, so Schnell, als der Alpentourismus noch fast ausschliesslich der Aristokratie und dem Grossbürgertum vorbehalten gewesen sei – zu einer Zeit also, als im Berner Oberland luxuriöse Grandhotels entstanden. Erste Ferienhäuser wurden damals von finanzkräftigen Ärzten, Juristen und Unternehmern gebaut. Als Architekten vermutet der Architekturhistoriker «einen gut ausgebildeten, eher jungen Mann».
Als Baujahr gibt die kantonale Denkmalpflege das Jahr 1910 an. Im Grundbuch, das der «Frutigländer» dank der Einwilligung des aktuellen Besitzers einsehen konnte, ist eine erste Handänderung im Jahr 1902 verzeichnet. Dieter Schnell sieht keinen Widerspruch. Vermutlich sei die Parzelle von den Bauherren 1902 erworben worden. Das Gebäude selbst könnte zwischen 1907 und 1910 entstanden sein, glaubt er. Andrzej Rulka, Mitarbeiter Bauforschung und Inventar bei der kantonalen Denkmalpflege, bestätigt diese These. Vor 1907 seien in der Schweiz keine solchen Heimatstilbauten aus der Zeit der Reformarchitektur bekannt. In Deutschland dagegen schon. Vonseiten der Gemeinde Adelboden war leider keine Auskunft über das Chalet Irène zu erhalten.

Rundgang durch das Gebäude
Offener zeigte sich der heutige Eigentümer Jean-Pierre Leuenberger-Bezzola: Auf Anfrage lud er zu einem Rundgang durch das vierstöckige Gebäude ein. Das Haus besteht aus einer Wohnung mit acht Zimmern, einer Küche sowie mehreren Kellerräumen. Auf dem Vorplatz fällt eine mosaikähnliche Kiespflasterung auf. Die Grundfläche des Hauses beträgt 91 Quadratmeter, die Gartenanlage 1625 Quadratmeter.

Durch einen von drei Torbogen betritt man das Erdgeschoss. Der Eingangsbereich wirkt wie ein renovierter Kreuzgang. Die Fenster sind vergittert, das Mobiliar ist jüngeren Datums. Nach der Garderobe befinden sich rechts ein Weinkeller, links eine Stahltür. Jean-Pierre Leuenberger-Bezzola bestätigt, dass sich dahinter ein Tresorraum mit zwei Stahlsafes verbirgt. Er vermutet, dass die Familie Dommen im Ersten Weltkrieg Vermögenswerte in Adelboden in Sicherheit brachte. Belege dafür gibt es zwar nicht. Doch die Vermutung ist nicht abwegig: Bereits im Ersten Weltkrieg eröffneten Ausländer bei Banken im Berner Oberland sowie in Graubünden Konten, um ihr Vermögen zu schützen.

Eckzimmer mit Blick auf den Lohner
Vom Erdgeschoss führt eine Holztreppe in den ersten Stock. Hier befinden sich ein Esszimmer sowie ein Wohneckzimmer mit wunderschöner Aussicht auf den Lohner. Kein Fenster gleicht dem anderen. Speziell ist die Kassettendecke. Das Täfer ist aufgedoppelt, nicht original. Aus der Gründerzeit stammen dagegen laut Leuenberger die Fliesen in der Küche. Der Küchenschrank jedoch ist – entgegen der Aussage einer Praktikantin der Denkmalpflege – nicht original. Der heutige Eigentümer hat ihn zusammen mit seinem Grossvater in jungen Jahren eingebaut.

Grosszügig bemessen sind die beiden Veranden mit Blick aufs Tal. Leuenberger hat die Schindeln gemäss den Vorgaben der Denkmalpflege ockerbraun, die Fensterläden rot und den Dachscherm sowie die Wände gelb streichen lassen. Die Balken sind schwarz. Die elektrischen Leitungen wurden im ganzen Haus erneuert, feuchte Stellen entfeuchtet. In den oberen Stockwerken befinden sich mehrere Schlafzimmer mit zwölf Betten und Waschgelegenheiten. Ein grosses Badezimmer will der Eigentümer noch einbauen. Die Böden sind teilweise neu gemacht.

Bisher hat der Hausherr rund eine halbe Million Franken in Renovationsarbeiten investiert – stets nach den Vorgaben der Denkmalpflege. Eine Entschädigung für seine Ausgaben hat Jean-Pierre Leuenberger bis zum heutigen Tag nicht erhalten. Die Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege und den Handwerkern sei nicht immer einfach, berichtet er. «Im Moment läuft grad gar nichts.» Doch aufgeben will er nicht. Solang ihm das aussergewöhnliche Gebäude Freude bereitet, will er weiter daran arbeiten.

Das «Gespenst» auf der Veranda war die Tochter
Zu mehreren zirkulierenden Geschichten hält Leuenberger Erklärungen bereit: Das Gerücht, es habe in dem Haus gespukt, sei vermutlich darauf zurückzuführen, dass eine behinderte Tochter der Gründerfamilie Dommen im Nachthemd auf der Veranda nachtwandelte. Die Geschichte vom Gespenst habe sich bis in die 50er-Jahre gehalten. Die Kinder im Dorf hätten sich vor der Erscheinung gefürchtet, wird in Adelboden erzählt. An ein antroposophisches Ausbildungszentrum will der heutige Eigentümer nicht glauben. In einem Dorf mit mehreren einflussreichen Glaubensgemeinschaften hätte eine solche Institution nicht Fuss fassen können.

Auf die Frage, ob die Villa einst an britische Skitouristengruppen vermietet worden sei, hat Hanspeter Oester eine Antwort. In den 70er-Jahren hätten zwei jüngere Damen eines britischen Reisebüros in seinem Sportgeschäft Skier für Touristen aus England gemietet, die im Chalet Irène logierten. Daran könne er sich sehr gut erinnern. Dem pflichtet auch Leuenberger bei: Seine Familie habe 1961 und 1964 zwei weitere Chalets auf dem Grundstück erbaut und in der Zeit bis 2008 das Chalet Irène vermietet. Das Gerücht, einst habe ein skurriler Maler darin gewohnt, dementiert Oester. Bei dem Künstler handle es sich vermutlich um Walter Krebs, der zwischen 1933 und 1937 in der benachbarten Villa Hohenfels im Heinrichseggen wohnte und seine Bilder bei Einkäufen im Dorf in Zahlung gab.

Ob Dorfgeschichte oder denkmalpflegerische Fakten: Die ungewöhnliche Villa im Adelbodner Vorschwand ist ein einzigartiges Bauwerk aus der Zeit des Heimatstils und damit ein wichtiges Stück Schweizer Zeit- und Architekturgeschichte.

Ein Blick ins Grundbuch

Laut Grundbuch kaufte eine Anna Dommen aus Aachen (Deutschland), geborene Mayer, im Februar 1902 das Grundstück am Schrenziweg 7 in Adelboden. Aufgrund des Baustils vermutet der Architekturhistoriker Dieter Schnell, dass das Chalet Irène zwischen 1907 und 1910 nach den Plänen eines ausländischen Architekten erbaut wurde.
Im März 1924 ging die Liegenschaft durch Erbfolge an Alfons Luther über, ebenfalls wohnhaft in Aachen.
Dieser verkaufte das Haus im gleichen Jahr an Oskar Jäger, Gutsbesitzer auf Schloss Falkenegg bei Coburg. Im Oktober 1932 erbte dessen Ehefrau Selma Jäger-Engels die Liegenschaft und verkaufte diese noch im gleichen Jahr an Hans Kummer aus Bettlach (Kanton Solothurn). Das Chalet Irène blieb im Besitz der Familie Kummer, bis es im Dezember 1948 an eine Immobilien-AG in Bettlach veräussert wurde.
Gut zehn Jahre später, am 1. Juni 1959, kauften Jules Grosvernier-Roth (geb. 1897), Grossvater des heutigen Eigentümers und Fabrikant in Solothurn, sowie dessen Ehefrau Germaine Grosvernier geb. Roth (Jahrgang 1899) die Villa und bauten sie um. Das Bijou ging 1974 an Jacqueline Leuenberger-Grosvernier (geb. 1927) über, die Mutter des heutigen Eigentümers. Seit dem 12. August 2008 ist Jean-Pierre Leuenberger-Bezzola Eigentümer der Villa Irène im Vorschwand.

PETER SCHIBLI

Das Chalet im Bauinventar des Kantons finden Sie unter www.frutiglaender.ch/web-links.html

Ein einzigartiger Bau aus der Zeit des Heimatstils

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