KOLUMNE – ZWISCHEN BERG UND BERN
25.03.2022 KolumneNachthimmel über Lutsk und Bern
«Appreciate your peaceful sky»: So lautete der Schlusssatz zu einem Comic einer ukrainischen Künstlerin, die beschreibt, wie sich ihr Leben innerhalb von Tagen verändert hat. «Seid dankbar für euren friedlichen Himmel.»
Ich ...
Nachthimmel über Lutsk und Bern
«Appreciate your peaceful sky»: So lautete der Schlusssatz zu einem Comic einer ukrainischen Künstlerin, die beschreibt, wie sich ihr Leben innerhalb von Tagen verändert hat. «Seid dankbar für euren friedlichen Himmel.»
Ich denke an meine erste Ukrainereise, 2013, mit Gitarre und Rollkoffer bis Lwiw (ob der Bahnhof dort noch in Betrieb ist?). Dann Aufbau im Keller eines Cafés, wo später am Abend etwa 40 junge Menschen zum Konzert kommen würden (ob sie dort jetzt Molotowcocktails basteln?), neugierig auf diesen Schweizer, der hier zwar nicht bekannt, aber immerhin eine Abwechslung ist. Vorher steige ich mit Vitja, meinem Gastgeber, Freund und Fotografen, auf den Turm beim Rathaus (wie lange der noch steht?) und wir blicken über den meilenweiten Horizont von Westen nach Osten. Tags darauf fahren wir mit einem klapprigen alten Zug nach Lutsk, wo wir Bilder machen im Stadtpark. Ich posiere in einem ukrainischen Trachtenhemd und Jeans auf dem Karussell eines angerosteten Vergnügungsparks. (Ob er diesen Sommer öffnen wird? Zumindest die vielen Familien werden dort nicht spazieren, weil die Mütter und Kinder weg sind.) Und abends in der etwas übertrieben schicken Bar auf dem Dach eines Hochhauses erzählen mir Vitja und seine Verlobte Olga von ihren Hoffnungen für die Zukunft, auch für die ihres Landes, in dem einmal mehr Aufbruchstimmung herrscht: Sie werden fleissig sein, sie setzen sich ein für frische politische Kräfte, sie lieben sich, sie träumen, und über uns der Nachthimmel und die Sternbilder (und keine Sirenen und keine Bombenfeuer vom nahen Flughafen her).
Heute ist auch so eine Sternennacht hier in der Berner Agglo. Ich bin dankbar für unseren friedlichen Himmel, ich denke an Vitja, der in Lutsk die Truppen mit Sanitätsmaterial versorgt, bevor sie Richtung Front fahren, Richtung Kiew (wo ich umgestiegen und friedlich herumspaziert bin). Ich denke an Olga, die zunächst nach Tallinn geflüchtet, aber wieder zurückgekehrt ist, weil sie Vitja nicht zurücklassen wollte in der Ungewissheit, ob sie sich je wiedersehen würden.
Und ich senke den Blick auf den Social-Media-Bildschirm und staune. Überall Positionierungen: Wer sind die Bösen, wer hat wann was? Es gibt Leute, die vor lauter Abneigung gegen «das Mainstream-Narrativ» bereit sind, sich jeder alternativen Erzählung anzuhängen, auch wenn das gar keinen Sinn macht für sie. So kommen Nato-Verteidigungen von Menschen, die sich sonst gegen jeden Imperialismus stark machen. Und Putin-Verteidigungen von Menschen, die noch vor einigen Wochen «Freiheit» skandierten und sich beklagten, die Schweiz werde gerade zur Diktatur. Und noch befremdender ist für mich, dass ich viele dieser Menschen vor fünf Jahren noch bei Friedensdemos getroffen hätte. Jetzt «verstehen sie irgendwie», dass jemand im geopolitischen Schach ein ganzes Land in Trümmer legt, weil er sich unter Druck wähnt. «Die Feinde meiner Feinde müssen meine Freunde sein»: Dieser Irrtum hat bei uns gerade Hochkonjunktur. Die Feinde sind das Denken in Feindschaften und die Macht, die nach Ausdehnung strebt.
Ich denke wieder an die jungen Leute in Lwiw und Lutsk. Sie machen sich nicht vor, der Westen sei die «gute Macht». Aber wen überrascht es, dass gerade die Menschen in den ehemals sowjetischen Staaten ein Leben in einer ziemlich freien Welt mit dreckigen Händen dem Leben in einer totalitär kontrollierten Welt mit ebenso dreckigen Händen vorziehen? Ich weiss jedenfalls, dass Vitja und seine Freunde nicht vom Westen «unterwandert» werden mussten, um für eine unabhängige und korruptionsfreie Heimat auf die Strasse zu gehen. Sie haben schon selbst gemerkt, dass eine problembehaftete Demokratie mit dem Recht zum Widerspruch dann doch die bessere der unperfekten Optionen ist.
Ich hebe den Blick, ich senke den Blick. Tun kann ich nichts. Ausser danken für unseren friedlichen Frühlingshimmel, unsere sirenenlosen Nächte, für alle Menschen, denen Menschen wichtiger sind als Systeme. Und beten für Vitja und Olga und all die einst hoffnungsvollen Menschen in ukrainischen Kellern.
CHRISTOPH TRUMMER