Gähnen sei ansteckend, heisst es, und tatsächlich lässt sich in einer Gruppe oft beobachten, dass reihum alle zu gähnen beginnen, wenn einer damit angefangen hat. Wie aber kommt es zu dieser Verhaltensweise – und welchen Sinn hat dieser «Ansteckungseffekt»?
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Gähnen sei ansteckend, heisst es, und tatsächlich lässt sich in einer Gruppe oft beobachten, dass reihum alle zu gähnen beginnen, wenn einer damit angefangen hat. Wie aber kommt es zu dieser Verhaltensweise – und welchen Sinn hat dieser «Ansteckungseffekt»?
MARK POLLMEIER
Es kommt vor, dass ein knapp einjähriges Kind in grösserer Runde gefüttert wird. Mutter oder Vater führen ein Löffelchen mit Brei zum Mund des Kleinen – und als Signal, was nun bitte passieren soll, öffnen sie dabei selbst weit den Mund. Aber auch andere Erwachsene am Tisch, welche die ersten Essversuche des Nachwuchses nur beobachten, sperren oft unwillkürlich den Mund auf. Der Schlüsselbegriff für solche Verhaltensweisen lautet Empathie, also die Fähigkeit, die Gefühls- und Gedankenwelt anderer zu erkennen und nachzuempfinden. Das Beobachten und Imitieren von Verhaltensweisen spielt dabei eine grosse Rolle: In Studien konnte nachgewiesen werden, dass bei beiden Tätigkeiten dieselben Bereiche des Gehirns aktiv sind. Der Mensch versteht die Gefühle anderer, indem er deren Mimik beobachtet und – meist unbewusst – nachahmt.
Gefühle selbst erzeugen
Letztlich beruht unser gesamtes soziales Miteinander auf diesen Mechanismen. Erzählt jemand etwas Lustiges, hellen sich auch die Gesichtszüge des Zuhörers automatisch auf. Ist jemand niedergeschlagen, setzt auch das Gegenüber eine traurige Miene auf. Die soziale Interaktion geht sogar noch weiter: Indem wir andere nachahmen, erzeugen wir die entsprechenden Gefühle sogar in uns selbst. Wenn jemand trauert, trauern wir auch selbst ein bisschen. Schon Säuglinge erlernen auf diese Weise die Palette der menschlichen Gefühlsregungen.
In diese Reihe gehört ebenfalls das Gähnen. Auch dabei handelt es sich um eine Form der Nachahmung und des Mitfühlens. Das bedeutet: Beginnt jemand zu gähnen, führt das tatsächlich dazu, dass auch alle anderen ein bisschen müde werden. Insofern ist der Schluss, Gähnen sei «ansteckend», nicht ganz falsch.
Bleibt noch die Frage, welchen Sinn das Ganze hat. Entwicklungsgeschichtlich betrachtet ist Empathie eine sehr alte Errungenschaft – sie findet sich nämlich schon bei unseren Vorfahren, den Affen. Auch in einer Schimpansenherde lässt sich das ansteckende Gähnen beobachten. Wissenschaftler vermuten, dass damit ein gemeinsames Schlafengehen angeregt werden soll – zum Schutz der eigenen Sippe. Wenn alle gleichzeitig schlafen, ist zumindest gewährleistet, dass niemand dem anderen das Essen stiehlt oder sonst etwas Böses anstellt.