Wie Adelboden tatsächlich ist – und was Ostern wirklich bedeutet

  13.04.2022 Gesellschaft

ESSAY Was haben Tourismuskonzepte und die Auferstehung Jesu gemeinsam? In beiden Fällen geht es um Glaubensfragen, auf die es mehr als eine Antwort gibt.

MARK POLLMEIER
Angenommen, ein hohes christliches Fest stünde vor der Tür und ich müsste als Journalist einen Artikel dazu verfassen. Wie würde ich es angehen?

Ich könnte den Zustand der Christenheit zum Beispiel anhand einiger Schlaglichter beschreiben. 30 bis 35 Prozent der Menschen in der Schweiz sind katholisch, 20 bis 25 Prozent evangelisch. Gottfried Locher, der frühere Präsident der Reformierten, hat gerade medienwirksam seinen Austritt aus der Kirche verkündet. Seine Nachfolgerin Rita Famos fand das respektlos. Ein anderes Kirchenoberhaupt, der Papst, kommt kaum noch nach, Entschuldigungen auszusprechen. Gerade war er in Kanada und hat dort um Vergebung gebeten für die Taten, die «seine» Kirche an Kindern verübte. Junge Katholiken in Deutschland diskutieren derweil, ob man den Gottesbegriff reformieren sollte. Um deutlich zu machen, dass der Allmächtige weder männlich noch weiblich sei, wollen sie künftig von «Gott+» sprechen. Wie das ausgesprochen werden soll, ist noch nicht geklärt. In der Schweiz sind göttliche Genderfragen bislang noch kein Thema.

Wäre das alles eine zutreffende Beschreibung? Ja und nein. Einerseits sind die genannten Fakten wahr, sie entsprechen den Tatsachen. Andererseits sind sie doch bloss ein willkürlich gewählter Ausschnitt aus der Realität. Die genannten Punkte sagen etwas aus – aber sie beschreiben nicht das Ganze.

Ein anderer Ansatz für einen Osterartikel wäre: rausgehen und die Leute fragen. Ich würde also über die Dörfer fahren und mit einem Mikrofon bewaffnet Passanten belästigen: «Was ist für Sie Ostern?» oder «Glauben Sie an die Auferstehung?» Manche würden vielleicht erklären, das Osterfest sei für sie schlicht ein verlängertes Wochenende («Hoffentlich wird das Wetter gut»). Andere würden religiöse Aussagen machen, wieder andere wären von den Fragen überfordert. («Auferstehung? Puh … noch nicht drüber nachgedacht.»)

Das Resultat einer solchen «Recherche» wäre ein Potpourri von Stimmen und Meinungen: Herr X sagt dies, Frau Y findet das. Wäre damit beschrieben, was die Leute im Tal über Ostern denken? Wiederum: ja und nein. Bei nur wenigen Befragten hätte eine solche Umfrage eine sehr begrenzte Aussagekraft. Mit steigender Anzahl käme man der Wahrheit schon etwas näher, aber selbst dann wäre das Ergebnis stark vom Zufall abhängig. Schon die Ortswahl könnte den Trend in die eine oder die andere Richtung beeinflussen. Würde ich meine Erhebung in Kandersteg durchführen, kämen vermutlich ganz andere Voten heraus, als wenn ich in Adelboden nachfragte.

Apropos: Inzwischen weiss ja die ganze Schweiz, wie die religiöse Landschaft im Lohnerdorf scheinbar aussieht: eng, konservativ, mit einem Hang zur Mission. Auch hier kann man fragen: Ist das Adelboden? Sie ahnen die Antwort: ja und nein. Dass es im Dorf einige mitgliederstarke Freikirchen gibt, dass dort eine andere Religiosität gepflegt wird als in einer durchschnittlichen Kirchgemeinde, all das lässt sich nicht leugnen. Aber eben: Es ist nur eine Facette des Dorfs, ein Teil eines Gesamtbilds. Ob dieser Teil im Fernsehen zu viel Gewicht bekam, darüber kann man streiten – und das wird ja mittlerweile auch getan. «SRF bi de Lüt» ist ein Gesprächsthema, zu dem jeder eine Meinung hat, und das ist vermutlich auch der Schlüssel, um die Aufregung um die Sendereihe zu verstehen. Tatsächlich gibt es wohl so viele Adelboden wie es Adelbodner gibt, und fragt man zusätzlich bei Feriengästen, Zweitwohnungsbesitzern und in den Nachbardörfern nach, kommen noch etliche Versionen (und Visionen) des Ortes hinzu. Ob das jeweilige Bild richtig oder falsch ist, liegt im Auge des Betrachters.

Die Touristiker wünschen sich ein Adelboden wie aus dem Werbekatalog, andere wären auch mit etwas weniger Besuchern zufrieden. Religiösen Menschen liegt die Sache Jesu am Herzen, anderen ist genau diese ziemlich gleichgültig.

«Adelboden BE – Auf Identitätssuche», so war die erste Folge der SRF-Serie überschrieben, und mancher hat sich darüber aufgeregt. Dabei trifft der Titel die Situation ziemlich gut. Man könnte sogar noch weiter gehen: Nicht nur Adelboden und die Adelbodner, wir alle sind heute auf Identitätssuche, als Einzelne, aber auch als Gesellschaft. Wie soll man leben? Was darf man noch essen? Sind Ferien per Flugzeug okay? Welche Sprache ist angemessen? Sanktionen gegen Russland: ja oder nein? Braucht Adelboden mehr Tourismus – oder eher weniger?

Die Liste der Fragen, mit denen wir täglich konfrontiert sind, ist endlos. Schnelle, einfache Antworten dagegen gibt es selten. In einer demokratischen Gesellschaft ist vieles Verhandlungssache. Was früher als gegeben, ja als gottgegeben galt, wird heute ausdiskutiert – mit offenem Ergebnis. Viele finden das anstrengend und sehnen sich nach mehr Klarheit und Struktur. Aber die Zeiten, in denen die Verhältnisse klar waren, sind vorbei. Das gilt für den Tourismus genauso wie für Fragen der Religion oder der Weltanschauung. Wie Adelboden tatsächlich ist und was Ostern wirklich bedeutet, lässt sich ehrlicherweise nicht klar beantworten – es kommt immer drauf an, wen man fragt.

Wir neigen dazu, diese Uneindeutigkeit für ein modernes Phänomen zu halten. Doch das ist sie nicht. Die Meinungen waren schon immer vielfältig, im Zuge von Globalisierung und Digitalisierung nehmen wir sie mittlerweile nur stärker wahr. Viele Debatten sind dadurch öffentlicher, schneller und lauter geworden. Aber kontrovers diskutiert wurde wohl schon immer – das zeigt nicht zuletzt ein Blick ins Neue Testament.

Nach der Kreuzigung Jesu bleibt die Schar seiner Jünger frustriert und verunsichert zurück. Als dann ein paar Frauen von Jesu Grab kommen und behaupten, der Meister sei auferstanden, halten seine Anhänger das für Geschwätz und glauben ihnen kein Wort. Selbst als der Auferstandene sich leibhaftig seinen Jüngern zeigt, diskutieren die noch eine ganze Weile, ob es das denn geben könne: einen Toten, der wieder lebendig wird. Einem muss Jesus sogar anbieten, den Finger in seine Wundmale zu legen, bevor er bereit ist, die Geschichte zu glauben.

Dass selbst enge Weggefährten unterschiedlicher Meinung sind und sich darüber austauschen, ist also nichts Neues. Bei den heutigen Diskussionen wünscht man sich gelegentlich, dass sie etwas weniger aufgeregt und gehässig geführt würden. Oder dass einer hereinkommt und in das allgemeine Geplapper hinein die richtigen Worte spricht – etwa so, wie es das Lukasevangelium schildert. «Als sie aber davon redeten, trat er selbst, Jesus, mitten unter sie und sprach zu ihnen: Friede sei mit euch!»


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote