ZWISCHEN BERG UND BERN – Mitverantwortung, nicht Bevormundung
29.04.2022 KolumneMitverantwortung, nicht Bevormundung
«Das Filmgesetz wird wohl kein grosses Thema sein, es gibt ja kein einziges gutes Argument dagegen», orakelte ich vor ein paar Monaten. Tja. Ungläubig habe ich zugesehen, wie in den vergangenen Wochen die windschiefen Argumente der ...
Mitverantwortung, nicht Bevormundung
«Das Filmgesetz wird wohl kein grosses Thema sein, es gibt ja kein einziges gutes Argument dagegen», orakelte ich vor ein paar Monaten. Tja. Ungläubig habe ich zugesehen, wie in den vergangenen Wochen die windschiefen Argumente der Nein-Kampagne ernsthaft verhandelt wurden. Auch die Abstimmungsvorschau des «Frutigländers» hat mich etwas geärgert. Diese Kolumne ist für einmal also auch ein wenig «Leserbrief».
Das einzige zutreffende Argument gegen die schlecht betitelte «Lex Netflix» ist idealistisch verstandener Liberalismus: Der Staat soll nirgends regulieren. Aber der Staat reguliert natürlich sehr viel und meist mit Unterstützung der Wirtschaftskreise, die sich nun plötzlich so idealistisch geben – sei es in der Landwirtschaft, in sämtlichen Importbereichen, in der Rüstung: Überall gibt es Regeln zur Marktteilnahme.
Das Filmgesetz ist nicht mehr als die Aktualisierung eines politisch breit akzeptierten medienpolitischen Grundsatzes: Wer in der Schweiz auf Sendung geht und vor Ort Einnahmen generiert, soll entweder mindestens vier Prozent der Einnahmen in die lokale Produktion investieren oder der Filmförderung des Bundes zur Verfügung stellen. Und das Angebot soll nicht nur US-Produktionen enthalten. Die internationalen Privatsender mit Schweizer Werbefenstern arbeiten schon lange unter dieser Regel. TV hat sich mit den Streamingdiensten verändert – logisch, dass auch für sie diese Regeln gelten sollen. So einfach. Keine Preiserhöhungen, auch keine Bevormundung, was man schauen soll. Oder ist es auch «Bevormundung der Konsumentinnen», wenn Schweizer Milch dank Subventionen und Importregeln erschwinglich bleibt?
Das neue Filmgesetz ist immerhin ein kleiner Schritt in die richtige Richtung: Nämlich die internationalen Entertainment- und Social-Media-Plattformen endlich auch lokal in eine gewisse Mitverantwortung zu nehmen. Diese Plattformen entziehen den einheimischen Märkten die Werbeeinnahmen und Kundinnen, sie vermeiden Steuern, wo sie können, und bekämpfen alle Versuche, die lokalen Gesetzen zu unterstellen. Ich könnte von Google oder Facebook schreiben, aber bleiben wir beim Entertainment: Die Filmstreamer machen 300 Millionen Franken Umsatz in der Schweiz und versteuern vor Ort keinen Franken. In der Musik: Spotify hat in der Schweiz 1,4 Millionen zahlende Nutzerinnen, bezahlt für diese Einnahmen aber keine Steuern hier. «Für die Schweiz» arbeitet genau eine Person, und zwar nebenbei, während sie in Berlin auch den deutschen Markt betreut. Kein Wunder, dass auf der wöchentlichen Playlist mit neuer Musik für die Schweiz mehr deutsche Bands vertreten sind als einheimische. Woher soll diese Person in Berlin auch wissen, was in der Schweiz läuft und von Bedeutung wäre? (Sie merken: Am liebsten wäre mir, man würde nicht nur von den Filmstreamern vier Prozent verlangen, sondern alle Tech-Firmen für ihre Umsätze vor Ort Steuern zahlen lassen. Die EU arbeitet schon lange an der Idee …)
Nun kann man sagen: Egal, der Kultur-Markt ist halt international, die Schweizer müssten halt bessere Musik und Filme machen, es braucht keine Regulierungen. Aber das zeugt nicht nur von Respektlosigkeit, sondern auch von himmelschreiender Unkenntnis über die Vermarktungsmöglichkeiten der Kulturproduktion. Vergleichbar könnte man auch sagen: Es braucht keine geregelten politischen Strukturen, die guten Ideen setzen sich schon durch. Das stimmt eben nicht, denn wie kommt eine Idee zur Realisierung? Es braucht Plattformen, auf denen man sie zeigen kann, organisierte demokratische Prozesse und oft auch eine Regulierung der Sprechzeit, denn sonst quatschen immer nur die Lautesten.
Lassen wir uns und unsere einheimische Kultur nicht einfach von den internationalen Riesen überfahren, setzen wir ein (immerhin kleines) Zeichen, dass auch multinationale Konzerne in ihren Märkten Mitverantwortung tragen: Ja zum Filmgesetz am 15.Mai.
P.S.: Selbstverständlich dürfen danach alle weiterhin schauen und hören, was sie wollen. Sie dürfen ja auch trotz «Cassis de Dijon»-Gesetz Schokolade aus Deutschland kaufen. Wenn Sie sich das antun wollen.
CHRISTOPH TRUMMER