«Meine Heimatstadt gibt es nicht mehr!»
06.05.2022 GesellschaftUKRAINEKRIEG In Frutigen leben zurzeit rund 200 ukrainische Flüchtlinge, zwei von ihnen sind Olia und Amalia Konovalenko aus Kiev. Ihr Ehemann und Vater harrt in seiner Heimat aus. Vor wenigen Tagen schilderte er in einem Brief, was seine Mutter und sein Stiefvater in Mariupol in den ...
UKRAINEKRIEG In Frutigen leben zurzeit rund 200 ukrainische Flüchtlinge, zwei von ihnen sind Olia und Amalia Konovalenko aus Kiev. Ihr Ehemann und Vater harrt in seiner Heimat aus. Vor wenigen Tagen schilderte er in einem Brief, was seine Mutter und sein Stiefvater in Mariupol in den letzten Wochen erleben mussten.
«Liebe Freunde, ich möchte euch kurz die Situation unserer Familie schildern. Olia und Amalia konnten Kiev am zweiten Kriegstag verlassen. Meine Mutter und mein Stiefvater hatten weniger Glück. Sie leben in Mariupol – in jener Stadt, die nun die ganze Welt kennt.
Selbstverständlich habe ich vorher mit meiner Mutter gesprochen und sie gebeten, die Stadt zu verlassen. Aber weder sie noch mein Stiefvater sahen einen Sinn darin, dies zu tun. Genau wie die Mehrheit der Menschen in der Stadt. Sie wollten ihre Häuser und ihre Heimat nicht verlassen und hofften auf das Beste. Leider vergebens. Ihre Hoffnungen zerstörten sich schneller, als sie formuliert werden konnten.
Bereits am 2. März war jegliche Kommunikation innerhalb der Stadt unterbrochen; keine Telefonie, kein Internet ... einfach nichts. Die Aggressoren griffen aus drei verschiedenen Richtungen an. Die Heizungs-, Wasser- und Stromsysteme wurden sofort zerstört. Rund um die Uhr warfen die Flugzeuge Bomben auf die Stadt. An den schlimmsten Tagen alle fünfzehn Minuten eine halbe Tonne. Ohne Unterbruch wurde die Stadt durch schwere Artillerie unter Beschuss genommen.
Für die BewohnerInnen von Mariupol eine unfassbare Tragödie. Ohne Strom und Heizung froren sie in den Nächten, in denen die Temperatur auf minus 12 Grad sank. Zu Essen gab es nur, was in den Haushalten übrig geblieben war. Dieses spärliche Etwas wurde unter grösster Gefahr im Freien über offenem Feuer gekocht und untereinander aufgeteilt. Da es kein Wasser mehr gab, sammelten die Menschen den Schnee von den Autodächern. Bei jedem Luftangriff versteckten sie sich in den Kellern. Die Telefone luden sie an Generatoren auf, um endlich mit der Aussenwelt in Kontakt zu treten. Aber der Handyempfang war weiterhin nicht möglich.
Jeden Tag wurden weitere Häuser zerstört und die Flammen der vielen brennenden Gebäude flackerten bei Tag und Nacht. Die Kämpfe fanden nun auf den Strassen von Mariupol statt und brachten die schreckliche Folge mit sich, dass ebendiese Strassen voller Menschenleichen waren.
Am 24. März schlug eine vom Meer aus abgeschossene Rakete im vierstöckigen Wohnhaus meiner Mutter und meines Stiefvaters ein. Die oberen Stockwerke wurden sofort weggesprengt. Die Fenster und Türen der Wohnung meiner Mutter im Erdgeschoss wurden herausgesprengt. Die Wohnung fing sofort Feuer. Meine Mutter und mein Stiefvater rannten mit leeren Händen und mit den Kleidern, die sie anhatten, hinaus. Nachbarn sagten, sie hätten einen Platz in ihrem Auto frei. Beide sprangen hinein und fuhren unter ständigem Artilleriebeschuss einfach drauflos. Wie durch ein Wunder gelang es ihnen, Mariupol lebend zu verlassen. Ich kenne noch nicht alle Einzelheiten. Jedes Mal, wenn ich mit meiner Mutter sprechen kann, fängt sie an zu weinen.
Liebe Freunde, ihr hattet in den letzten Jahren womöglich gewisse Gründe, euren Medien nicht zu vertrauen. Aber was sie über den Krieg in der Ukraine berichten, entspricht zu 99,9 Prozent der Wahrheit. Und diese Wahrheit spielt sich direkt vor unseren Augen ab.
Nach den Informationen, die wir hier haben, starben in Mariupol bis heute mehr als 20 000 Zivilisten.
Meine Heimatstadt gibt es nicht mehr. Meine Heimatstadt ist völlig zerstört. Es gibt keinen Weg zurück. Die russische Welt ist gekommen.
Bitte betet für uns.»
VLAD KONOVALENKO (ÜBERSETZT VON CHRISTOPH FURRER, KOLUMNIST BEIM «FRUTIGLÄNDER»)