DIE KUNST DES JEIN-SAGENS
Erinnern Sie sich, welches Wort Ihr Kind als Erstes in den Mund nahm? «Nein», werden vermutlich manche von Ihnen antworten – aus gutem Grund. Denn das Wort «Nein» spielt im frühen Kindesalter eine wichtige Rolle und gehört nicht selten zu ...
DIE KUNST DES JEIN-SAGENS
Erinnern Sie sich, welches Wort Ihr Kind als Erstes in den Mund nahm? «Nein», werden vermutlich manche von Ihnen antworten – aus gutem Grund. Denn das Wort «Nein» spielt im frühen Kindesalter eine wichtige Rolle und gehört nicht selten zu den ersten Lauten überhaupt, die Erwachsene zu hören bekommen. Manchmal finden die Kleinen derart Gefallen daran, dass sie auch «Nein» sagen, wenn sie eigentlich «Ja» meinen.
Erklärungsansätze für dieses Verhalten gibt es viele, beispielsweise, dass Widerspruch eine stärkere Reaktion und damit mehr Aufmerksamkeit generiert als Zustimmung.
Doch was, wenn die Kleinen das Verhalten, wie vieles andere auch, einfach von den Erwachsenen kopieren? In der aktuellen Tagespolitik zumindest gibt es genügend Belege dafür, dass das gängige Ja-Nein-Schema längst ausgedient hat.
So stimmten wir kürzlich darüber ab, wem künftig Organe entnommen werden können. Die neue Regelung: Wer «Nein» sagt, meint «Nein», wer hingegen schweigt, meint «Ja» – es sei denn, die Angehörigen verneinen oder sie sagen ebenfalls nichts, was wiederum «Nein» bedeutet.
Auch im Sexualstrafrecht ist die Situation kompliziert. Zurzeit wird darüber gestritten, ob man erst dann von einer Vergewaltigung sprechen kann, wenn das Opfer zuvor ein deutliches «Nein» kommuniziert hat (alles andere heisst «Ja») oder ob bereits eine Straftat vorliegt, wenn das Gegenüber nicht explizit zugestimmt hat (alles andere heisst «Nein»).
Nicht einmal in militärischen Angelegenheiten herrscht derzeit kommunikative Klarheit. So sagte das Volk zwar an der Urne «Ja» zu einem neuen Kampfjet, darf den Kauf des konkreten Modells aber dennoch ablehnen – es sei denn, der Bundesrat findet, dieses «Nein» sei nichts wert und bedeute letztlich doch ein «Ja».
Die Welt, die wir unserem Nachwuchs erklären müssen – sie ist wahrlich nicht einfach. Daher kann es sicher nicht schaden, wenn wir den Kleinen ab und an ein klares «Ja» oder «Nein» senden (und dies auch so meinen). Wobei Letzteres – ich spreche da aus eigener Erfahrung – eindeutig mehr Überzeugungskraft erfordert.
JULIAN ZAHND
J.ZAHND@FRUTIGLAENDER.CH