UNTERLÄNDER IM OBERLAND – Ewige Pfadfinder
10.05.2022 KolumneEwige Pfadfinder
Mein Vater war das, was man den «ewigen Pfadfinder» nennt: allzeit bereit! Und dies nicht nur bei seinem Harem.
Im Mai wurde es am schlimmsten. Kaum dass die Bäume einen Hauch von Grün zeigten, schrie er nach harten Eiern. Und wedelte mit der ...
Ewige Pfadfinder
Mein Vater war das, was man den «ewigen Pfadfinder» nennt: allzeit bereit! Und dies nicht nur bei seinem Harem.
Im Mai wurde es am schlimmsten. Kaum dass die Bäume einen Hauch von Grün zeigten, schrie er nach harten Eiern. Und wedelte mit der Thermosflasche. In dieses verbeulte Blechgefäss, das mit einem Stück Militärwolldecke umwickelt war, wurde honiggesüsster Lindenblütentee abgefüllt. LINDENBLÜTENTEE!
Und dies bei einem, der den «Appenzeller» aus dem Bierhumpen soff.
«Er hat wieder den Frühlingsrappel!», flüsterte meine Mutter. Und schickte ihren Blick himmelwärts, von wo sie sich Besserung erhoffte.
Aber schon tauchte der Mittelpunkt unserer Familie mit roten Wollsocken (Zwiebelmuster), genagelten Bergschuhen und einem angeschnallten Rucksack in der Grösse einer Hundehütte in der Stube auf: «Ja was ist?! Wollt ihr warten, bis es wieder schneit! Man muss den Frühling feiern, wenn sein Mai-Vöglein ruft! Auf geht’s zur Bonderlen!»
WIR HÄTTEN AUS DEM MAI-VÖGLEIN GERNE EIN «POULET IM KÖRBLI» GE-MACHT. DENN SOLCHE WANDERUNGEN IM PFADFINDER-STIL WAREN JETZT NICHT UNBEDINGT UNSERE SACHE!
Das Schlimmste: Vater war der ewige Flammer! Kein Ausflug, an dem er uns nicht durch die Wälder gejagt hätte: «Jetzt sammeln wir schön Holz. Und machen dann ein Feuerlein ...»
ER SELBER SAMMELTE GAR NICHT. Kein Scheit, kein abgedorrtes Ästchen. Null.
Als ehemaliger Pfadiführer, Politiker und Gefreiter unserer Schweizer Flugabwehr, wusste er, wie man die anderen auf Trab hält. Mit verschränkten Armen dirigierte er die Familie herum: «Dort hat’s noch Dürres ...!» Erst als er «STRAMM STEHEN!» brüllte, baute sich meine gute Mutter wie der Eiffelturm vor ihm auf. Sie brüllte wütend zurück: «JA SPINNST DU DENN – WIR SIND HIER IN DEN FERIEN.
UND NICHT AUF DEM MILITÄRPLATZ!»
Pfffft! Sofort war die Luft raus, wie bei einem eingestochenen Ballon. «Ist recht, Lotti», sagte er leise.
ABER NICHTS WAR RECHT!
Meine Mutter hatte sich geweigert, im Rote-Socken-Outfit und in Jute nach Bonderlen zu pilgern. Sie war auch gar nicht der Lindenblütentee-Typ. Bei ihr musste es ein klirrendes Cocktailglas (zwei, drei) sein. Dazu ein Canapé mit Norwegerlachs. ABER SICHER NICHT EINE GEBRÄTELTE CERVELAT, DIE ÜBER DEM FEUER DIE BEINE SPREIZTE.
Nun hatte sie sich also mit diesen hohen Stöckelschuhen, die jeden Transvestiten in den Schatten stellten, auf den Weg zur Alp gemacht. Die zehn Zentimeter hohen Hacken waren mit Kuhscheisse und Murmelikot verschmiert. Und ihre schönen Beine, auf die sie so unglaublich stolz war, hatten Einstiche wie ein Nadelkissen. Die Bremsen assen sich an den Waden der schönen Lotte satt. Und dass Vater das Militärliedlein «Überem Gotthard fliege Brääme ... die kaibe Bräääme» anstimmte, zeigte die typische Feinfühligkeit von Politikern und Militärköpfen, die mit genagelten Schuhen durch die Welt gehen.
Ich nutzte also die miese Stimmung unterhalb der Alp: «Mir ist schlecht…ich glaube, ich werde ohnmächtig ...» Diese Szene hatte ich aus einem frühen Ruth-Leuwerik-Film abgekupfert. Und Vater schaute entsetzt auf seinen Sohn, der sein Gesicht mit 4711 bespritzte. Und die Augen verdrehte (auch nach Ruth Leuwerik).
«Ach Lotti – der Bub ist eine echte Theatertucke. Von wem er das nur hat?», jammerte er.
«Von wem er das nur hat?» war die meistgestellte Frage in unserer Familie. Gleich nach «Isst man Spargeln von Hand oder mit der Gabel?»
Jedenfalls: Abbruch der Übung – und dies, noch bevor die Wurst über dem Feuer die Beine gespreizt hatte.
«Ich gebe eine Runde aus!» – so die erlöste Mutter, die sich mit Grasbüscheln den Kuhschiss von den Pumps rieb. Und uns ins Café Schmid einlud.
Hier liess die Gute das Eis im Cocktailshaker rumpeln. Das Kind bekam seinen «Coupe Wildstrubel» mit doppelter Rahmportion. Und Vater löschte seinen Wanderdurst mit drei «Appenzellern» aus dem Bierhumpen.
So ist es dann doch noch ein Tag geworden, an dem das Mai-Vöglein sang.
- MINU
MINU@MINUBASEL.CH