Hochwasser in der Versuchs-Engstlige
17.06.2022 FrutigenUm die Hochwasserschutzprojekte Kander und Engstlige ist es still geworden. Im Hintergrund wurde aber weiter geplant und modelliert: Die ETH Zürich versucht, den idealen Schwemmholzrückhalt für die Engstlige zu finden. Ein Blick ins Versuchslabor.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Andris Wyss lässt pro Sekunde 20 Liter Wasser durch das Kiesbett fliessen, aus einem Trichter wird regelmässig feiner Sand mit Kieselsteinen beigemischt, und auf halber Länge des Beckens lässt ein Mitarbeiter des ETH-Labors regelmässig farbige Hölzchen in verschiedenen Längen in das fliessende Wasser fallen. Was aussieht wie ein überdimensionierter Sandkasten für Erwachsene, hat einen ernsten Hintergrund. In einem Becken von 30 mal 4 Metern der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie auf dem Zürcher Hönggerberg wird simuliert, was bei einem Hochwasser in der Engstlige oberhalb des Campingplatzes Frutigen passieren kann. Untersucht wird, wie möglichst viel Schwemmholz im Grassi zurückgehalten werden kann.
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Rund 50 mehrstündige Versuche werden an der ETH Zürich im Auftrag der Gemeinde Frutigen durchgeführt. Die Begleitgruppe Engstlige und Kander hatte letzte Woche Gelegenheit, sich die Arbeiten anzuschauen und erste Resultate zu erfahren. Die Versuche von Andris Wyss und dem Team rund um Volker Weitbrecht sollen helfen, die ideale Platzierung und Gestaltung eines Schwemmholzrückhaltes zu ermitteln.
Viele Grundlagen, etwa zum Abfluss und Geschiebe, sind heute am Computer berechen- und simulierbar. Für Modellierungen zum Schwemmholz sind jedoch physikalische Modellversuche nötig – wie jene am Modell im Massstab 1:35.
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Die Anforderungen an den geplanten Holzrückhalt sind komplex. Einerseits soll so viel Geschiebe wie möglich vom Gand durch die Engstlige abgeführt und aus dem Ober- in den Unterlauf transportiert werden. Das soll die Erosion im Unterlauf verhindern. Andererseits muss aber möglichst viel Schwemmholz zurückgehalten werden, um sogenannte Verklausungen («Verstopfungen») und Rückstauungen bei den Brücken im Dorf zu verhindern. Die Versuche zeigen, dass mit verschiedenen Rechensystemen rund 50 Prozent des Holzes zurückgehalten werden kann. Michael Auchli von der Hunziker, Zarn und Partner AG, einer der Verantwortlichen des Hochwasserschutzprojektes, betont, dass mit einem solchen teilweisen Holzrückhalt im Oberlauf, weiterhin Schwemmholz im Unterlauf anfallen wird. Deshalb könne auf den Ausbau im Unterlauf – mit Ufererhöhungen und Brückenanhebungen – nicht verzichtet werden.
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Innerhalb einer halben Stunde werden an der ETH drei grosse Behälter mit Holzstückchen in die Modell-Engstlige gegeben. Die beiden Rechen des Versuches Nummer 42 – einer besteht aus Metallstäben, der andere aus Holzelementen – füllen sich stetig, verfolgt von Kameras, die das Verhalten der Rechenelemente aufzeichnen. Im Rahmen der Modellversuche wurde zudem untersucht, welchen Einfluss die Mittelinsel und die beiden Werkbrücken auf den Schwemmholzrückhalt haben. Dazu werden auch Versuche ohne Mittelinsel und ohne die Brücken durchgeführt. Die Platzierung der Rückhalteelemente unterliegt einer weiteren Randbedingung, die zwingend berücksichtigt werden muss: Oberhalb der beiden Werkbrücken im Gand befindet sich ein Auenschutzgebiet von nationaler Bedeutung. Dort sind Kunstbauten nur mit Nachweis der Standortgebundenheit realisierbar, d.h. sie müssen an diesem bestimmten Standort erstellt werden. Aktuell werden deshalb auch Rückhalteelemente unterhalb dieser Brücken oder eine Kombination von Elementen innerund ausserhalb des Auenschutzperimeters geprüft.
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Die Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie beschäftigt neben den verschiedenen Ingenieuren ein eigenes Bauteam, bestehend aus zehn Handwerkern vom Schlosser bis zum Maurer, die extra für solche Versuche angestellt sind. In der grossen Halle auf dem Hönggerberg sind derzeit fünf Bachbette für diverse Abklärungen realistisch nachgebildet, zudem stellt ein eigenes kleines Kieswerk die richtigen Mischungen und Körnungen von Kies und Geschiebe her. Die angereisten FrutigerInnen begutachten das vorbeifliessende Wasser einerseits fasziniert, andererseits fast enttäuscht, weil die Bewegung im Kiesbett mit blossem Auge weniger deutlich erkennbar ist als erwartet. Die Besucher – vor allem Gemeindepolitiker und Anwohner – zeigen zudem bei der Nachbesprechung grosse Sachkenntnis und bringen die eine oder andere Anregung ein, die im weiteren Projektablauf geprüft werden soll. Die Infos werden an der ETH dankbar entgegengenommen, schliesslich will man für die Kosten von gut 150 000 Franken auch entsprechend fundierte Resultate liefern.
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Als Szenario dient den Ingenieuren das Unwetter von 2011, ein so genanntes 30-jährliches Ereignis. Bis zu 140 Kubikmeter Wasser flossen damals pro Sekunde die Engstlige hinab und brachten viel Holz mit. Die bereits seit dem Hochwasser 2005 an Kander und Engstlige geplanten Schutzmassnahmen wurden immer wieder angepasst (siehe Kasten). Quasi als letzter Teil der Abklärungen ist nun der Schwemmholzrückhalt an der Engstlige in Prüfung. Ausgegangen wird dabei von einem 100-jährlichen Ereignis, was im Modellmassstab 20 Liter Wasser pro Sekunde bedeutet. Welches der getesteten Systeme als Bestvariante bestimmt und in der Folge verfeinert wird, ist noch offen. «Ein Entscheid ist noch nicht gefallen», betont Rolf Künzi von der Flussbau AG. Andris Wyss und das ETH-Team werden wohl noch eine Weile an der Modell-Engstlige arbeiten.
Termine und Kosten
Hochwasserschutz ist eine Daueraufgabe der öffentlichen Hand – und dauert in Frutigen auch schon lange. Nach den Unwettern 2005 und 2011 wurden die Planungen von Schutzmassnahmen an der Kander und der Engstlige jeweils den neusten Erkenntnissen angepasst. Die Projektierung nahm viel Zeit in Anspruch. Zudem verweigerte die Gemeindeversammlung Ende 2018 Nachkredite für die Planung und stellte die Annahmen der Fachleute sowie Auflagen der Behörden infrage. Derzeit ist vorgesehen, dass die Resultate der Versuche an der ETH bis Ende 2022 vorliegen, dann wird das Bauprojekt 2023 ausgearbeitet. Die Auflage des Engstligeprojektes soll voraussichtlich im April 2024 erfolgen. Die Kosten ohne Schwemmholzrückhalt: 5,3 Millionen Franken (mit Rückhalt: 9,6 Millionen). Eine Umsetzung ist ab 2025 denkbar.
Im Laufe des nächsten Jahres soll das Projekt Kander aufgelegt werden. Dieses ist auf das Dörfchen Kanderbrück reduziert worden und soll etwa 6 Millionen Franken kosten.
HSF