DIE KUNST UND DIE LIEBE

Irgendwann Mitte der 1960er-Jahre merkt eine Gymnasiastin, dass sie im Mathematikunterricht nicht mehr richtig mitkommt. Doch das Mädchen hat Glück; es kommt aus gutem Hause, sodass die Familie einen Nachhilfelehrer engagieren kann, einen jungen Mann, kaum älter als die Schülerin selbst. Der Privatunterrichtet fruchtet, die Noten verbessern sich.
Doch wie das Leben so spielt: Die junge Dame hat sich während der Nachhilfe nicht nur der Differentialrechnung angenähert, sondern auch ihrem Lehrer. Als die mathematische Notgemeinschaft längst beendet ist, bleiben die beiden in schriftlichem Kontakt. Auf ihre Brieffreundschaft folgt eine Beziehung, später die Verlobung. Die beiden heiraten, gründen eine Familie, bekommen selbst Kinder. In der Schublade ihres Schreibtischs bewahrt die einstige Gymnasiastin jahrzehntelang ein kariertes Blatt Papier auf, beschrieben mit mathematischen Formeln – ein Überbleibsel aus der ersten Nachhilfestunde, in der alles seinen Anfang nahm. Für Unbeteiligte ist dieser Zettel ohne Bedeutung, bloss ein altes Stück Papier mit unverständlichen Notizen. Für die Frau aber ist er eine romantische Erinnerung an ihre Jugend. Nie und nimmer könnte sie diesen Zettel wegwerfen ... Okay, diese Geschichte ist frei erfunden – doch die nächste ist wahr.
Eine Schule in Winterthur muss während der Pandemie für eine Weile schliessen. Bei der Gelegenheit lässt man das Gebäude von Grund auf reinigen. Eine Putzkraft nimmt ihren Job besonders ernst: In der Aula säubert sie sogar mehrere Wände.
Als der Schulleiter einige Zeit später zurückkehrt, trifft ihn fast der Schlag. Dort, wo jahrelang die Installation einer lokalen Künstlerin gehangen hat, ist jetzt: nichts mehr! Der eifrige Reinigungstrupp hatte das Kunstwerk für eine alte Schülerarbeit gehalten – und es kurzerhand entsorgt.
In der Stadt ruft der Vorgang vor allem Spott hervor: «Wenn die Putzfrau das Zeug nicht mal als Kunst erkannt hat, kann es so toll ja nicht gewesen sein!» Doch, kann es. Mit der Kunst ist es wie mit Gefühlen. Selbst ein alter Zettel kann einem Menschen viel bedeuten, auch wenn niemand sonst das versteht. Wer will da entscheiden, was «gute» Kunst ist und was nicht?

MARK POLLMEIER

M.POLLMEIER@FRUTIGLAENDER.CH

SCHLUSSPUNKT – Die Kunst und die Liebe

Image Title

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Ja. Ich benötige ein Abo.

Article

Image Title