«Ich war wohl ein harter Hund»
19.07.2022 FrutigenNach 37 Jahren geht Hans Germann in Pension. Er hat Hunderte von Lernenden unterrichtet und massgeblich dazu beigetragen, dass Frutigen zum schweizweit anerkannten Ausbildungszentrum für Schreiner und Zimmerleute geworden ist – gegen viele Widerstände.
HANS RUDOLF ...
Nach 37 Jahren geht Hans Germann in Pension. Er hat Hunderte von Lernenden unterrichtet und massgeblich dazu beigetragen, dass Frutigen zum schweizweit anerkannten Ausbildungszentrum für Schreiner und Zimmerleute geworden ist – gegen viele Widerstände.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Es gibt einen Hans Germann 1.0 und einen Hans Germann 2.0. Letzterer ist nach einem Herzinfarkt im September 2017 quasi neu geboren worden. Beiden ist zu eigen, dass sie eine klare Linie haben, deutliche Worte wählen und Macher sind. Der neue Hans Germann musste aber lernen, dass es nicht nur Schwarz und Weiss, sondern auch Grauzonen gibt – was ihm nach eigenen Angaben nicht leicht gefallen sei. Er sitzt am runden Tisch in seinem Büro im Holzzentrum Widi in Frutigen. Sein Schreibtisch ist leer, die Gestelle sind geräumt. «In ein paar Tagen gebe ich die Schlüssel ab, und das Kapitel ist beendet.» Ein klarer Schnitt, wie er zu ihm passt. Und dennoch: «Ich gehe ungern, denn ich habe mit Freude Unterricht gegeben. Ich war eher der Lernbegleiter und Lernförderer – und sicher kein Lehrer.»
Lebenskunde statt Schule
Nach dem Lehrerseminar arbeitete Hans Germann in Blankenburg an einer Primarschule, anschliessend acht Jahre in Winklen. Ab 1983 / 84 erhielt er parallel dazu die Gelegenheit, bei den Köchen in Adelboden während jeweils vier Wochen in Blockkursen Deutsch und Turnen zu unterrichten. Diese Kombination gefiel ihm sehr und es machte damals «Klick». Einer seiner Schüler hatte eine ungenügende Note verdient, tischte aber beim Abendessen ein Vorspeisenbuffet auf, das «absolute Klasse» war. Ein Schlüsselmoment für Germann: «Ich erkannte, dass Schulnoten nicht alles sind.» Diese Erkenntnis hat seinen Unterricht in der Berufsschule geprägt, wo er ab 1985 für die Holzberufe zuständig war. Er wollte die jungen Leute lebens- und praxisnah unterrichten – beispielsweise, indem er mit einer Klasse das Jugendgericht besuchte, wenn Alkohol- oder Raserdelikte verhandelt wurden. Er war mit Lernenden auch im Gefängnis. In Projektwochen im In- und Ausland wurden der Zusammenhalt und die Teamarbeit gefördert. So hat das Engagement der Frutiger Schreiner sowohl im Bündnerland als auch in Rumänien Spuren hinterlassen.
Ehrlichkeit gegen Vertrauen
Die Gerichtsbesuche sollten den Schülern nicht Angst machen, sondern Konsequenzen aufzeigen. «Die Jugendlichen sind in einem schwierigen Alter. Vieles ändert sich gleichzeitig, und sie werden vom ‹Schnuderbueb› zum fachlich versierten Berufsmann», sagt Germann. «Fehler dürfen passieren, wenn man dazu steht.» Er habe auf Ehrlichkeit gegen Vertrauen gesetzt. «Nie habe ich nachgefragt, wenn einer der Lehrlinge zu spät kam. Ich vertraute darauf, dass er einen guten Grund hatte. Auch beim zweiten Mal. Beim dritten Mal redete ich mit dem Lehrmeister. Das hat normalerweise gewirkt.»
Jeder erhielt eine zweite Chance, aber nur einmal. «Ja, ich war wohl ein harter Hund», sagt Germann. «Ich war konsequent, aber dadurch auch berechenbar. Meist bin ich mit meinen Grundsätzen recht gut gefahren.» Nach seinem Infarkt gab er in den neuen Klassen offen zu, dass er gesundheitliche Probleme habe und beispielsweise längere Mittagspausen benötige. Dies könne zur Folge haben, dass die aus dem ganzen Oberland angereisten Lernenden nach dem Unterricht auch mal einen späteren Zug nehmen müssten. Er wollte wissen, ob sie bereit wären, so mit ihm bis zu ihrem Abschluss zu arbeiten. Das Fazit: einhellige Zustimmung.
Der Kampf um die Berufsschule
Seit 1909 gibt es in Frutigen Berufskundeunterricht. Aufgrund kantonaler Sparbemühungen wurde die Kaufmännische Schule 1997 geschlossen, dasselbe war mit der Schule für Schreiner und Zimmerleute geplant. Dass Frutigen unter diesen Umständen zum anerkannten Holzzentrum werden konnte, setzte einen rechten Kampf voraus. An vorderster Front dabei war der Schulleiter Hans Germann, mit Sternzeichen Löwe eine Kämpfernatur. Er nutzte die Öffentlichkeit, die guten Leistungen der Lernenden an internationalen Berufswettbewerben (sieben Medaillen durch ehemalige «Frutiger» Lehrlinge) und politische Kontakte. Sein zentrales Argument: «Es kann doch nicht sein, dass nach 20 Jahren Planung für das Schulgebäude schon zwei Jahre nach dessen Eröffnung die Berufsschule abgezogen wird. Erklärt das mal den Bürgern!» Schliesslich schloss sich Frutigen 1997 dem Berufsschulzentrum Interlaken bzi an. Dessen Initiant Hanspeter Seiler hatte mit Germann gegen alle Schliessungsvorhaben für die «hölzigen» Berufsschulen im Oberland gekämpft. Die Partnerschaft hat sich bis heute bewährt. Der Standortvertrag wurde 2018 für zehn Jahre plus zehn Jahre Verlängerungsoption unterzeichnet. «Bis 2038 sollte also diesbezüglich Ruhe in Frutigen herrschen», so der langjährige Standortleiter. Die Argumente für den Fortbestand, die damals angeführt wurden, sind auch heute noch gültig. Frutigen hat oft bei der Integration neuer Techniken – CNC-Maschinen und CAD-Konstruktionen – in Beruf und Schule eine Pionierrolle übernommen sowie Veränderungen in Lehrplänen getestet und verbessert.
Spezialisierung hat auch Nachteile
Haben sich auch die Jugendlichen verändert? Hans Germann überlegt einen Moment und sagt lachend: «Sie waren und sind immer gleich alt. Aber wir Lehrer werden älter.» Einigermassen Schritt zu halten, sei fordernd, aber auch bereichernd. Beeindruckt gewesen sei er immer wieder von der Neugierde und dem Willen der Schüler, technische Neuerungen auszuprobieren und aufzunehmen. Das habe auch mit den ausgezeichneten Lehrbetrieben zu tun, die im Oberland die Ausbildung der Schreiner und Zimmerleute förderten. Er hoffe, dass dies weiterhin so bleibe und auch schulisch Schwächere gerade in kleineren familiären Betrieben auf das Berufsleben vorbereitet würden. Solche Allrounder würden leider immer weniger.
Die Spezialisierung auf bestimmte Produkte in den Betrieben wirke sich in der Ausbildung aus. Der Handwerker werde zunehmend zum Industriearbeiter. «Deshalb wird heute nur der Stoff der überbetrieblichen Kurse an der Prüfung abgefragt. Das bietet allen dieselben Chancen.» Er vergisst nicht zu erwähnen, dass diese obligatorischen Kurse seit 2017 in Frutigen durchgeführt werden, in Nachbarschaft zum Schulzentrum.
Frustrierende Politikerjahre
Dieses neue Kurslokal wurde wärend Germanns Zeit als Gemeinderat durch den Berufsverband der Oberländer Zimmermeister realisiert. An die Jahre 2010 bis 2017, in denen er als Kommunalpolitiker für die SVP wirkte, erinnert er sich weniger gern zurück als an die Zeit als Lernbegleiter. Mit seiner direkten Art und durch das offene Ausfechten von Problemen eckte er öfters an. Zudem war und ist sein Wunschressort Bau nicht das einfachste. «Ich wollte aufräumen.» Doch Treu und Glaube – wichtige Charakterzüge für Hans Germann – seien in der Politik nicht gefragt. Entsprechend gross seien auch seine Enttäuschung und sein Frust über den Widerstand gegen von ihm lancierte Projekte gewesen. Dabei sei er motiviert eingestiegen, habe für Frutigen positive Entwicklungen vorantreiben wollen. Als Konsequenz daraus habe er spätere Anfragen für das Amt des Gemeindepräsidenten klar abgelehnt. Nach seinem Infarkt sei dies sowieso kein Thema mehr gewesen, sagt er fast erleichtert.
Ein toller Abschluss
Vor rund zehn Tagen hat Hans Germann nach 37 Jahren als Berufsschullehrer seine letzten Abschlussklassen verabschiedet. «Mit irrsinnig guten Noten», wie er mit einem Strahlen im Gesicht festhält. Gut ein Drittel der neuen Schreiner seien mittlerweile Frauen, betont er. Während all der Zeit seien auch viele nicht gern zur Schule gekommen. Wenn er dann aber später von diesen höre, dass es doch lustig gewesen sei, sei das sein grösster Lohn.
Und was passiert, wenn er die Schulhausschlüssel abgegeben hat? Hans Germann ist stolz, dass seine Agenda für die nächste Zeit leer ist – «einfach weiss». Kürzer getreten ist er bereits nach seinem Infarkt, hat die Standortleitung Frutigen faktisch abgegeben und stellenmässig reduziert. Oft ist er seither mit dem E-Bike unterwegs – und will vor allem das machen, woran er Freude hat. Das heisst aber auch, dass er seine Organisationsqualitäten noch einmal unter Beweis stellen will: als OK-Präsident des Oberländischen Schwingfestes 2023 in Frutigen, das rund um die Sporthalle Widi vor seinem ehemaligen Büro stattfinden wird.