AUF AUGENHÖHE – Auf Winnetous Spuren
08.07.2022 KolumneAuf Winnetous Spuren
Kroatien gehört zu den beliebtesten Feriendestinationen Europas. Wir reisten im Mai dieses Jahres zum ersten Mal dorthin. Auf dem Reiseprogramm standen die Küstenregionen und die Nationalparks Plitvicer Seen, Krka und Paklenica. Die Parks mit ihren ...
Auf Winnetous Spuren
Kroatien gehört zu den beliebtesten Feriendestinationen Europas. Wir reisten im Mai dieses Jahres zum ersten Mal dorthin. Auf dem Reiseprogramm standen die Küstenregionen und die Nationalparks Plitvicer Seen, Krka und Paklenica. Die Parks mit ihren steilen, oft zerklüfteten Felswänden, stäubenden Wasserkaskaden und türkisblauen Seen kamen mir vage bekannt vor. Grund dafür waren die in den 1960er-Jahren in dieser Region gedrehten Winnetou-Filme.
«Träumerin und Leseratte» würde in meiner Biografie wohl über meine Kindheit stehen. Nach durchgelesener Schulbibliothek machte ich mich auf, neue belletristische Schätze zu entdecken. Dabei stiess ich auf Karl May – seine Bücher und als Folge auch die Filme habe ich geliebt. Sie entführten mich in den Wilden Westen, durchs wilde Kurdistan, in die Schluchten des Balkans und an viele weitere wunderbare Orte. Sie weckten meine Neugier auf ferne Länder und Kulturen. Besonders Winnetou und Old Shatterhand waren meine Helden: Stark und edel erlebten sie grenzenlos scheinende Abenteuer. In meinen Träumen ritt ich oft an ihrer Seite. Mays Reiseerzählungen prägten mein Kindheitsbild über die indigenen Völker Amerikas, denn damals wusste ich nicht, dass May die Romane schrieb, ohne vorher je einen Fuss auf den amerikanischen Kontinent oder in den Nahen Osten gesetzt zu haben. An der Faszination, die die Geschichten auf mich ausübten, hätte es vermutlich auch nichts geändert.
Heute scheinen Mays Werke wirklichkeitsfremd, klischeehaft und kolonialistisch. Doch anno 1890, als sie entstanden, galten andere Werte. May habe sich im Laufe der Zeit ungewöhnlich stark mit der Figur des Old Shatterhand identifiziert und Realität und Wirklichkeit kaum mehr unterscheiden können, steht in seiner Biografie. War es die Flucht aus einem schwierigen Leben, in dem er nach einer traurigen Kindheit lange nicht Fuss fasste? Doch Hand aufs Herz: Brauchen wir nicht alle ab und zu eine Auszeit in einer anderen Realität? Manchmal, wenn mir die schiere Flut der Nachrichten von Verbrechen, Krieg, Umweltkatastrophen und Krankheiten zu viel wird, flüchte auch ich gerne in die Weiten der Fiktion. Ferne Universen, Parallel- und Fantasiewelten, fantastische Wesen und Aliens verzaubern mich, ziehen mich in ihren Bann. Und ich weiss: Nichts ist Realität, niemand stirbt oder leidet wirklich, und am Ende gewinnen sowieso (meist) die Guten. Vor den Autoren dieser wunderbaren Werke ziehe ich gerne den Hut, auch wenn ab und zu einer davon ein bisschen der Welt entrückt ist.
Zurück nach Kroatien. Auch Ferienreisen sind eine Auszeit vom Alltag. Kroatien rief bei mir die Abenteuer um Winnetou und seinem Blutsbruder Old Shatterhand wach und liess sie – einer Fata Morgana gleich – über die Prärie reiten und mich in Erinnerungen an Mays Reiseerzählungen schwelgen. Doch in der Realität begegnete ich einem gastfreundlichen Volk. Menschen wie du und ich, die uns voller Stolz ihre wunderschöne Heimat zeigten.
BARBARA STEINER-SUTER
AUFAUGENHOEHE@OUTLOOK.COM