Die Geschichte vom «Swiss Glockenspiel»
29.07.2022 GesellschaftESSAY Mitten in London, etwa auf halber Strecke zwischen dem Buckingham Palast und dem Britischen Museum, liegt der Leicester Square, ein hübscher Platz mit einem baumbestandenen Park in der Mitte. Das Zentrum der Grünanlage bildet ein Brunnen mit der Statue William ...
ESSAY Mitten in London, etwa auf halber Strecke zwischen dem Buckingham Palast und dem Britischen Museum, liegt der Leicester Square, ein hübscher Platz mit einem baumbestandenen Park in der Mitte. Das Zentrum der Grünanlage bildet ein Brunnen mit der Statue William Shakespeares, drum herum hat man ein Wasserspiel installiert, wie man es seit einigen Jahren auch auf dem Berner Bundesplatz findet. Der Brunnen, die gepflegten Beete, Shakespeare – bis hierhin ist das alles normal, man ist schliesslich in London. Verlässt man die Grünanlage aber in nordwestliche Richtung, stösst man auf etwas gänzlich Unerwartetes. Wo sich in der Fussgängerzone verschiedene Wege kreuzen, ragt ein massiver Stahlpfosten aus dem Pflaster. Auf seiner Spitze thront eine vierseitige Uhr, wie man sie von grossen Schweizer Bahnhöfen kennt. In der Mitte des Mastes hängen, wie Kugeln an einem Weihnachtsbaum, grosse und kleine Glocken, und zuunterst findet sich eine beleuchtete Trommel mit den Schweizer Kantonswappen und einer Reihe Holzfiguren in Appenzeller Tracht. Schaut man auf den Stadtplan, ist an der entsprechenden Stelle «Swiss Glockenspiel» vermerkt. Kaum 20 Meter weiter die nächste Überraschung. Kurz vor dem Ende der Fussgängerzone steht ein Pfahl, an dem wiederum sämtliche Kantonswappen und das Schweizerkreuz angebracht sind. Wie eine Messingtafel aufklärt, handelt es sich um den «Cantonal Tree», den Baum der Kantone. Aufgestellt wurde er am 15. April 1991 zum 700. Geburtstag der Schweiz. Als Zeichen der dauerhaften Freundschaft zwischen der Eidgenossenschaft und dem Vereinigten Königreich habe der ehrenwerte Oberbürgermeister von Westminster den Platz in «Swiss Court» umbenannt, ist auf der Tafel zu lesen. Ja, tatsächlich: Die Schweiz hat einen eigenen Platz, einen Schweizerhof im Herzen der britischen Hauptstadt – samt Hoheitszeichen! Welche Nation kann Ähnliches von sich behaupten?
Der Botschafter und die Bondgirls
Die Geschichte dieses Kuriosums reicht zurück ins Jahr 1965. Damals eröffnete hier in bester City-Lage das Swiss Center, gewissermassen die Visitenkarte der Schweiz in London. In dem modernen Gebäude gab es zu sehen und zu kaufen, was das Land zu bieten hatte: Schokolade, Käse, teure Uhren, Bally-Schuhe, allerlei Souvenirs. Essen konnte man bei Mövenpick, Flüge buchen bei der Swissair, Franken wechseln am Schalter des Schweizerischen Bankvereins, hier Swiss Bank Corporation genannt. Ein Tourist Office gab es natürlich auch. Das Swiss Center war ein Publikumsmagnet. Kein Wunder, dass der Schweizer Botschafter René Keller am 3. Dezember 1969 auf dem Dach des 14-stöckigen Gebäudes eine grosse 007-Flagge hissen durfte – spielte doch der neue Bond-Film «Im Geheimdienst ihrer Majestät» zu grossen Teilen im Berner Oberland. Der Meisterspion war selbst nicht zugegen, aber immerhin zwei Bond-Girls, die dem Botschafter assistierten. Die eigentliche Attraktion des Swiss Centers war jedoch das über dem Eingang angebrachte Glockenspiel. Mehrmals täglich spielten 27 Glocken traditionelle Schweizer Volksmelodien, aber auch, als Ehrerbietung an das Gastland, populäre englische Popsongs und Militärmärsche. Doch damit nicht genug. Wenn die Glocken zu schlagen begannen, setzte sich unter dem Schriftzug «Switzerland» dazu ein Alpaufzug in Gang. Vor einer Bergkulisse zogen 20 bewegliche Figuren – Frauen, Männer, Tiere – von links nach rechts vorüber, bis die Musik verklungen war. Und jedes Mal, wenn dieser Präzisionsapparat zu arbeiten begann, blieben die Leute im belebten Londoner Westend stehen und staunten.
«Six alphorns» und die BBC
Diese schönen Zeiten sind lange vorbei. In den 1990er-Jahren begann der Abstieg der Schweizer Exklave. Leerstand machte dem Swiss Center zu schaffen, britische Souvenirshops und Ramschläden eroberten die Gewerbeflächen. Kurz vor der Jahrtausendwende verkauften die Eigentümer – die Swissair und der Schweizerische Bankverein – das Gebäude an einen Immobilienkonzern. Der riss das Swiss Center im Jahr 2008 ab, an gleicher Stelle entstand ein Luxushotel mit verglaster Fassade.
Das Swiss Glockenspiel war im September 2007 ein letztes Mal erklungen, vor dem Abriss wurde es demontiert. Die Schweiz hatte die Anlage 1985 in weiser Voraussicht den Briten geschenkt. So waren die nun dafür zuständig, die Anlage aufwändig restaurieren zu lassen. Da es das Swiss Center nun nicht mehr gab, hängte man die Glocken 2011 an jenem zehn Meter hohen Pfahl auf, der heute noch in der Fussgängerzone steht. Etwa die Hälfte der Holzfiguren blieben erhalten. Immerhin: Als das Glockenspiel am neuen Ort aufgestellt wurde, berichtete sogar die BBC. Sechs «alphorn players», postiert auf den Dächern ringsum, begleiteten den Event.
Luxushotel und Schokolinsen
Die Schweizer Glocken läuten immer noch, zur vollen Stunde spielen sie alle möglichen Melodien von Mozart bis Mani Matter. Gesteuert wird die Anlage vom mittelenglischen Derby aus übers Internet, was zur Folge hat, dass sie manchmal hängen bleibt wie eine Website, die nicht lädt. Wenn aber alles glatt läuft, bewegen sich zur Musik sogar die Figuren – inklusive eines Sennen, der in seinem Chäs-Chessi rührt. Auf touristischen Stadtspaziergängen ist das Swiss Glockenspiel nach wie vor eine beliebte Station. Doch der Charme der 1960er-Jahre, als der Alpaufzug an der Fassade des mondänen Swiss Center vorüberzog, ist verschwunden – genau wie die Swissair, der Schweizerische Bankverein und Bally, das heute einer luxemburgischen Holding gehört. Wo man früher echte Schweizer Schokolade kosten konnte, werden heute in der «M&Ms World» amerikanische Schokolinsen verkauft.
Früher war alles besser
Keine Frage, so, wie die Geschichte hier erzählt ist, hat sie eine gewisse Symbolkraft. Man kann sie nostalgisch lesen, dann steht sie für den Untergang der guten alten Zeit, als in Europa Aufbruchstimmung herrschte und die westlichen Nationen ihre besten Jahre noch vor sich hatten. Auch Globalisierungskritiker werden fündig. Die Macht internationaler Konzerne, der Niedergang des Altbewährten, die Ausbreitung von billigem Ramsch rund um den Erdball – es sind alle Zutaten vorhanden. Die Sache ist: Schon im Privaten bringen einen solche Gefühlslagen nicht weiter. Das ständige «Früher war alles besser» hinterlässt lediglich Frustration und Verbitterung. In der Politik kann die Verklärung der Vergangenheit sogar gefährlich werden. Ob Donald Trump («Make America Great again»), Boris Johnson («We will take back control») oder Wladimir Putin («Die Ukraine war schon immer ein Teil Russlands»): Wenn einstige Grossmächte an ihre vermeintlich besseren Zeiten anknüpfen wollen, kommt nichts Gutes dabei heraus.
Die Macht der Realität
Auch in kleineren Massstäben ist das Rückwärtsgewandte in aller Regel kein guter Ratgeber. Früher war der Sprit billig und man konnte für ein paar Franken rund um den Globus fliegen. Früher regelte die Schweiz ihre Beziehungen zur EU in bilateralen Verträgen. Früher ging man mit 64 oder 65 in Rente und hatte dann sein Auskommen. Früher war die Schweizer Neutralität integral. Schön und gut. Doch was soll man aus solchen Aussagen ableiten? Dass sie bis in alle Ewigkeit gelten werden? Das wird nicht passieren. Was früher galt und richtig war (oder zumindest richtig schien), wird irgendwann von der Realität überholt werden. Die Frage ist, wie man auf diesen unvermeidlichen Vorgang reagieren möchte. Man kann frustriert in der Ecke sitzen und die Vergangenheit rühmen. Oder man kann versuchen, den Blick in die Zukunft zu richten und den eigenen Gestaltungsspielraum nutzen. Als das Swiss Glockenspiel nach 2007 restauriert werden musste, arbeiteten übrigens auch Schweizer daran mit. Der Appenzeller Künstler Adalbert Fässler half dabei, die Holzfiguren originalgetreu aufzuarbeiten. An der Hochschule der Künste Bern wurden Schweizer Melodien für die neue Apparatur umgeschrieben, zum Beispiel Mani Matters «Zündhölzli». Beides trug dazu bei, dass das Glockenspiel erhalten blieb – in anderer Gestalt als zuvor, aber immerhin.
MARK POLLMEIER