Göttliche Synapsen
Nie hat mir eine Kolumne mehr Reaktionen eingebracht als jene, die ich vor vielen Jahren – damals noch im «Berner Oberländer» – über den Glauben schrieb. Ob jemand an Gott glaube oder nicht, so mutmasste ich, hänge von den Schaltungen seiner ...
Göttliche Synapsen
Nie hat mir eine Kolumne mehr Reaktionen eingebracht als jene, die ich vor vielen Jahren – damals noch im «Berner Oberländer» – über den Glauben schrieb. Ob jemand an Gott glaube oder nicht, so mutmasste ich, hänge von den Schaltungen seiner Gehirnsynapsen ab. Das war nicht frei erfunden – es war damals in den Zeitungen zu lesen, als Hypothese der neurophysiologischen Forschung. Demnach könnte das gläubige Erleben Gottes ein blosses Hirngespinst sein.
Die meisten Zuschriften, die ich erhielt, meinten es gut mit mir: Ich solle einfach mal die Bibel lesen! Dann würden mir diese gehirnwissenschaftlichen Flausen schon vergehen, und ich würde unweigerlich zum Glauben finden. Allerdings: Ein solches Resultat wollte sich bisher nicht einstellen. Da kann ich die Bibel studieren, so lange ich will. Irgendwelche Beweiskraft hat sie nur für jene, die an sie glauben.
Bin ich also ein Atheist? An dieser Stelle erinnere ich mich an mein Schüleraustauschjahr als 17-Jähriger in Kalifornien. Anders als in der Schweiz, wo uns nur die Optionen «gläubig» oder «nicht gläubig» geläufig waren, kannten zu meinem Erstaunen schon damals viele US-Jugendliche den Begriff des Agnostizismus. Zur Frage nach der Existenz Gottes sagen Agnostiker kurz und einfach: «Ich weiss es nicht.» Wir können es nicht wissen. Und es spielt fürs Leben auch keine Rolle – wir werden es früh genug erfahren. Nach dem Tod ...
Wobei: Selbst wenn es einen Gott gibt, garantiert dies uns Menschen ja noch lange kein ewiges Leben. Der Dichter und Pfarrer Kurt Marti zum Beispiel war ein gläubiger, tiefreligiöser Mensch. Dass ihn allerdings ein Fortbestehen nach dem Tod erwarte, daran hegte Marti grösste Zweifel: «Ich glaube nicht an eine unsterbliche Seele. Unsterblich ist nur Gott», sagte er einmal. Auch für die Tierwelt gibt es gemäss gängiger christlicher Lehre kein Jenseits, weder Paradies noch Hölle. Warum sind Gläubige so überzeugt, dass Gott ausgerechnet mit den Menschen anders verfährt? Dass er sogar unseren Gebeten zuhört? Nimmt sich der Mensch etwas gar wichtig?
Wie gesagt: Wir wissen es nicht. Anstatt irgendetwas zu glauben, lobe ich mir deshalb den Agnostizismus. Auch dieser schliesst ja nicht aus, dass zwischen Himmel und Erde manch Höheres bestehen könnte, das sich unseren Sinneskräften und wissenschaftlichen Messmethoden (noch?) entzieht.
Wer weiss? Falls das mit den Gehirnsynapsen zutrifft: dass sie bei mir auf «Nicht-Glauben» geschaltet sind, finde ich jedenfalls ganz okay.
TONI KOLLER
TONI_KOLLER@BLUEWIN.CH