EHRBARE POLITIK
«Ehrenmann!», ruft mein 16-jähriger Sohn und nickt dazu anerkennend. Er hatte nach dem Training sein Sportzeug vergessen; ein Kollege bemerkte die Tasche und trug sie ihm hinterher. Früher hätte man das vielleicht cool gefunden oder ...
EHRBARE POLITIK
«Ehrenmann!», ruft mein 16-jähriger Sohn und nickt dazu anerkennend. Er hatte nach dem Training sein Sportzeug vergessen; ein Kollege bemerkte die Tasche und trug sie ihm hinterher. Früher hätte man das vielleicht cool gefunden oder nett und sich für die Aufmerksamkeit bedankt. Heute klatscht man sich lässig ab und sagt: «Ehrenmann!».
Der Begriff scheint irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein, in unserem aktuellen Sprachgebrauch kommt er jedenfalls kaum noch vor. Gerade das macht ihn für Jugendliche attraktiv. Sie inter pretieren den altertümlichen «Ehrenmann» neu und verwenden ihn auf ganz eigene Weise.
Wörter zu verfremden und ihnen eine neue Bedeutung zu verleihen, war schon immer Teil der Jugendkultur. Das Beispiel «Ehrenmann» ist gleichwohl interessant: Es zeigt, dass das Konzept der Ehre aus unserer Gesellschaft fast vollständig verschwunden ist. Im öffentlichen und privaten Leben, in Politik und Wirtschaft richten wir uns nach allen möglichen Werten – die Ehre gehört selten dazu.
Daraus abzuleiten, andere Gesellschaften würden genauso funktionieren, ist jedoch ein Fehlschluss; man denke nur an den Ukraine-Krieg. Mit seiner gewaltsamen Expansionspolitik verfolgt Wladimir Putin vor allem das Ziel, die Ehre Russlands bzw. der früheren Sowjetunion wiederherzustellen. Übersetzt man Putins Gedankenwelt ins US-Amerikanische, landet man unmittelbar bei Trumps Republikanern: «Make America great again!»
Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Gerade in Ländern, die es mit Demokratie und Bürgerrechten nicht (mehr) allzu genau nehmen, scheint die Ehre ein Schlüsselbegriff der Politik zu sein. Viktor Orbán sieht ständig die Ehre Ungarns verletzt. In der Türkei legt Recep Erdogan grössten Wert darauf, dass seine und die Ehre des Landes nicht beschmutzt werden.
In vielen europäischen Staaten ging man nach 1989 davon aus, dass das eigene Modell von Demokratie und Kapitalismus sich durchsetzen werde – und übersah dabei, welch enorme Bedeutung Ehre und Beleidigtsein in vielen Ländern haben. Beruhigend, dass wenigstens unsere Jugend einen völlig unernsten Umgang damit pflegt.
MARK POLLMEIER
M.POLLMEIER@FRUTIGLAENDER.CH