GANZ PERSÖNLICHE MEINUNGEN
Zeitungen sollen möglichst neutral berichten und Nachrichten verkünden. So wird es immer wieder gefordert. Doch im Idealfall tragen Zeitungen mit ihrer Arbeit auch zur (politischen) Meinungsbildung bei – zum Beispiel, ...
GANZ PERSÖNLICHE MEINUNGEN
Zeitungen sollen möglichst neutral berichten und Nachrichten verkünden. So wird es immer wieder gefordert. Doch im Idealfall tragen Zeitungen mit ihrer Arbeit auch zur (politischen) Meinungsbildung bei – zum Beispiel, indem sie Leserbriefe abdrucken.
Nun darf man sich fragen, was das eigentlich ist, so ein Leserbrief. Ganz naiv könnte man vermuten: Es ist die persönliche Meinungsäusserung eines Zeitungsnutzers. Jemand liest etwas, zum Beispiel im «Frutigländer», und weil er sich darüber wundert, ä rgert oder freut, setzt er sich hin und verfasst dazu eine Rückmeldung (die dann wiederum abgedruckt wird).
Manchmal läuft es tatsächlich so. Es gibt LeserInnen, die ganz konkret auf einen zuvor erschienenen Artikel reagieren und dazu ihre Meinung äussern (siehe Seite 2). Doch so ist es nicht immer. Längst setzen Parteien und Verbände den Leserbrief auch als Propagandainstrument ein. Wie das geht? Vielleicht so: Jemand, der schreiben kann, heckt einen griffigen Text aus, sagen wir, zu einer bevorstehenden Abstimmung über die Rente. D ieser Text wird dann an Mandatsträger und Verbands vertreter weitergereicht, verbunden mit dem Auftrag, die örtliche Presse fleissig mit «Leserbriefen» einzudecken.
So kommt es, dass in den Redaktionsstuben Zuschriften von ganz verschiedenen Leuten eingehen, die jedoch absolut gleich formuliert sind. Der eine Absender ist vielleicht Nationalrat, der andere Präsident eines kantonalen Verbands (nur so als Beispiel). Doch wie durch ein Wunder haben beide zur selben Zeit exakt dieselben Gedanken zu Papier gebracht.
Streng genommen müsste unter solchen Zuschriften «Propagandaabteilung XY-Partei» stehen. Oder «Pressedienst XY-Verband». Tut es aber nicht. Stattdessen sind diese scheinbaren Leserbriefe a llesamt persönlich unterzeichnet, ganz so, als habe jeder Absender seine Zeilen selbst verfasst.
Ist das verwerflich? Irreführend? Oder völlig legitim, weil man als wichtiger Mensch ja nicht alles selbst erledigen kann? Ich weiss es nicht; ich gebe l ediglich wieder, was ich beobachte. Oder anders gesagt: Ich verkünde hier bloss ganz neutral Nachrichten.
MARK POLLMEIER
M.POLLMEIER@FRUTIGLAENDER.CH