Eine Lebensgeschichte

Ich bin gerne unterwegs. Immer, wenn ich meine Wohnung verlasse, führt mich mein Weg an einem alten Rosskastanienbaum vorbei. Vor diesem Baum lädt ein Bänkli zum Sitzen ein. Heute ist schönes Wetter. Ich geniesse den Blick auf den Niesen und überlege mir, was ich in meiner nächsten Kolumne schreiben soll.
Wir sind ständig von Geschichten umgeben. Selbst der alte Rosskastanienbaum würde – wenn er reden könnte – viel zu erzählen wissen. Lebensgeschichten! Auf Schritt und Tritt begleiten sie uns. Aus dieser Fülle heraus über das Leben und seine Geschichten zu schreiben, ist aber gar nicht so einfach, weil es zu viele davon gibt.
Nun sitze ich hier, krame in meinen Erinnerungen und stosse auf eine Lebensgeschichte, die mich sehr beeindruckt hat. Frau Meier (Name geändert) hatte den Tiefpunkt erreicht. Ihr Leben wurde von Alkohol und anderen Drogen bestimmt. Ihr einziger Ehrgeiz bestand darin, sich immer genügend Stoff zu besorgen. Hauptsache, der Rausch hörte nie auf. Um dieses Ziel zu erreichen, war ihr jedes Mittel recht.
Eines Tages war Frau Meier wie vom Erdboden verschluckt. Die verrücktesten Geschichten wurden erzählt. Solche Geschichten nehme ich zur Kenntnis, gehe aber nicht weiter darauf ein, denn Gerüchte verschwinden, wenn sie nicht genährt werden.
Gut zwei Jahre später begegnete mir Frau Meier in der Thuner Innenstadt. Sie war total verändert, kaum wiederzuerkennen. Sie freute sich, mich zu sehen. Neugierig fragte ich sie: «Wollen Sie mir von Ihren Erlebnissen erzählen?» Sie wollte. So besorgte ich am Kiosk etwas zu trinken, dann fuhren wir zusammen mit dem Bus zum Bonstettenpark. Auf einem Bänkli direkt am See machten wir es uns bequem, und sie begann zu erzählen.
Sie berichtete, dass sie in Meiringen einen Entzug gemacht hatte, weil sie sich selber nicht mehr ertragen konnte. Sie sprach von Tobsuchtsanfällen und von Phasen des Selbstmitleids, von «heulendem Elend», wie sie es nannte. Sie berichtete, wie nach etwa zwei Wochen die Gruppengespräche begannen, in denen nebst dem physischen auch der psychische Entzug seinen Anfang nahm.
Nachdem die Zeit in Meiringen nach vierzig Tagen zu Ende gegangen war, begann sie eine Therapie in der psychiatrischen Klinik Münsingen. Um keinen Preis wollte sie in ihr altes Leben zurück. Es war eine harte, aber lehrreiche Zeit, die von inneren Kämpfen, Medikamentencocktails, von Vor-sich-Hindämmern und klaren M omenten geprägt war. Gruppen- und Therapiegespräche förderten den Heilungsprozess, bis Frau Meier nur noch mit ihrer Angst, rückfällig zu werden, umgehen lernen musste.
Inzwischen sind mehr als dreissig Jahre vergangen, seit mir Frau Meier ihre Geschichte erzählt hat. Sie ist nie mehr rückfällig geworden. Es ist erstaunlich, was Willenskraft alles bewirken kann. Der Wille fördert unser Selbstvertrauen und stärkt die Persönlichkeit. Ich habe grossen Respekt vor Menschen wie Frau Meier, die sich aus dem Drogensumpf befreiten und ihr verkorkstes Leben in ein lebenswertes umwandeln.
Es gibt viele bemerkenswerte Alltagsgeschichten, die im Verborgenen geschehen. Keine Zeitung berichtet darüber. Diese Geschichten beginnen klein und unscheinbar und werden oft nicht bemerkt. Aber Geschichten entwickeln sich und bringen den Menschen dazu, sich selber immer wieder neu zu erfinden.

BERNHARD NEUENSCHWANDER

LEBENSGESCHICHTEN - Eine Lebensgeschichte

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