Frutigen, August 2025
Liebes Mäder Rösi
Auf deinem Grabstein steht 1915 – 2000, aber auf dem Friedhof bist du nicht, dein Zwergenhüsli wurde ausgebaut, da wohnst du auch nicht, am ehesten schwebst du über dem Frutigtal, drum ...
Frutigen, August 2025
Liebes Mäder Rösi
Auf deinem Grabstein steht 1915 – 2000, aber auf dem Friedhof bist du nicht, dein Zwergenhüsli wurde ausgebaut, da wohnst du auch nicht, am ehesten schwebst du über dem Frutigtal, drum schreibe ich dir durch den «Frutigländer».
Meine Schwester Hanni ging zu dir in die erste und zweite Klasse und war sehr glücklich bei dir. Ich und die kleinen Brüder mussten zuhause warten, bis sie heimkam und die neusten Erlebnisse von Nils Holgersson erzählte oder ein schönes Bild vom Rotkäppli brachte mit wunderbar !iessenden Farbübergängen oder im Schürzensack ein Stümpli duftender Stockmar-Wachskreide, das sie aus dem Papierkorb gefischt hatte. Hanni war sehr glücklich bei dir in der Schule, und die ganze Familie lebte wohl daran. Denn abends, wenn der Vater heimkam, hatte er kaum Zeit, seine Hände zu waschen und die Überkleider auszuziehen, bevor er die neuste Geschichte vom Gänserich Martin, ein neues Versli oder Liedli zu hören bekam. Und wir Kinder hörten es ein zweites oder drittes Mal, es war nie zu viel.
Ab und zu begegneten wir dir und deiner Schwester Greti auf dem Sonntagsspaziergang. Du gabst jedem Einzelnen einen warmen Händedruck und ein liebes Wort, wir fühlten uns vom Liebgott persönlich gewürdigt, und wenn Vater be!issen fragte, ob Hanni «guet tue» in der Schule, sagtest du nie, es schwatze zu viel oder mache nicht vorwärts. Du gabst unsern Eltern die Sicherheit, ihre verträumte Älteste sei vollkommen in Ordnung, es komme ihr immer etwas in den Sinn, sie interessiere sich intensiv fürs Seelenleben anderer Kinder oder von Figuren in den Geschichten. Es war nie ein Problem, dass Hanni das Lesen so schwer begriff und wenig Verständnis fürs Rechnen hatte, die Eltern verliessen sich auf deine Zusage: «Das chunnt de scho.» Und es kam dann. Sie las im Oberschulalter nächtelang dicke Bücher und liess sich beim Einkassieren nie übers Ohr hauen.
Wie glücklich du unsere ganze Familie mit deinem Wirken gemacht hast, konnte ich dir an einem Lehrerkurs noch selber sagen, da warst du schon pensioniert. «E, wart, säg mer net der Name, i wiis es! Da isch ds Hanni mit de dicke Haar, de briite Zennd u de grosse Mandli, das het so vil Halsweh ghabe. U du Ohreweh. Der Jüngst het Peter ghiisse, der zweitjüngst Hänsi u du … Heidi. Ja. Un eui Mueter het eso !yssig glismet, ier syt am Sunntig ging ali glych aagliiti gsy. Un am Wärchtig hiit er suber g!ickti Chliider annd ghabe, eui Mueter isch gar e gschickti gsy. Der Vatter het ging öppis mid euch undernoh u het richtig Früüd ghabe a syre Familie. Bim Seebärger het er gwärchet, oder? Wa syt er due o härezüglet?» Nach zwanzig Jahren konntest du dich noch an die Familie einer ehemaligen Schülerin erinnern! Und nicht bloss an die Namen! Die fandest du anhand der psychosozialen Umstände und des ganzheitlich betrachteten Habitus. Ich war überwältigt.
Zwar seid ihr wegen eures anthroposophischen Unterrichtsstils angefeindet worden, («Schule muss weh tun, sonst lernen die Kinder nichts», höre ich auch heute noch, und dein Unter - richt tat wohl), aber man habe euch nie etwas anhängen können. Mit der Zeit habe die Schulkommission dann nicht mehr aufs Geschwätz gehört und euch machen lassen, weil sie sah, dass die Kinder «trotzdem» etwas lernten und erst noch mit Freude, wie eben unser Hanni. Das habe es ja nicht leicht gehabt. – Aha? Das wusste ich nicht. – Wenn du den Eltern etwas gesagt hättest von Teilleistungsschwäche oder unreifem Verhalten, hättest du sie nur verunsichert. Es sei sicher besser gewesen, dass Hanni sich habe Zeit lassen können für seine Entwicklung. Es sei ja ein so verspieltes Kind gewesen, man hätte seine Welt mit mehr Zielstrebigkeit im abstrakten Lernen kaputt gemacht.
Heidi Blaser (Gerber Blaser)
Den zweiten Teil des Briefes lesen Sie in der kommenden Ausgabe des «Frutigländer».