Frutigen, August 2025
Liebes Mäder Rösi
Kürzlich ist Hannis Welt kaputtgegangen und deshalb drängt es mich, dir zu schreiben. Vielleicht können amtierende Erstklasslehrerinnen die Tragweite ihres Unterrichts konkreter ...
Frutigen, August 2025
Liebes Mäder Rösi
Kürzlich ist Hannis Welt kaputtgegangen und deshalb drängt es mich, dir zu schreiben. Vielleicht können amtierende Erstklasslehrerinnen die Tragweite ihres Unterrichts konkreter einschätzen: Er trägt auch noch im Alter.
Vor vier Wochen erlitt Hanni einen Schlaganfall und verlor dadurch die Sprache. Die Sprechfähigkeit von Lippen-Zunge-Stimmbändern ist recht bald zurückgekommen, auch die Lähmungen der Gliedmassen verschwanden schon in der ersten Woche. Aber die Sprache bleibt verschüttet. Hanni will sagen: «Bring mir bitte ein paar T-Shirts mit.» Und heraus kommt nach mühsamem Wortsuchen: «Du neu Schuh», und sie klappt die Finger der linken Hand auf und zu (ein paar). Beharrlich beantwortet sie unsere Fragen, bis wir uns zu den T-Shirts durchgearbeitet haben, dann schreiben wir’s auf ihren Block, sie liest und bestätigt. Sechs Minuten strengste Konzentration für eine so einfache Mitteilung! Dann wartet sie die empfohlene Ruheminute nicht ab, sondern beginnt gleich eine neue Mitteilung.
Die Körpersprache hat Hanni nicht verloren: Angewidert dreht sie sich vom Essen weg, weil es «stinkt» (Geruchsinn kompromittiert). Sie streichelt ein imaginäres Chüngeli, um ein Grosskind zu fragen, wie’s mit den Häsli so gehe. Sie zeigt aufgeregt zwischen die Ritzen der Steinmauer, um eine Eidechse zu zeigen. Dann will sie das Wort nachsprechen und kann’s nicht aufgliedern. Was? Kse? Ekse? Ei? Nei! (doch nicht essen!) Ei-akse? Nei, brum (Fahrgeste, Einachser ist ein Motorfahrzeug). Eid-äksli? Eid-äksli, Eidäksli, aha, Eidächsli, Eidächsli, ja Eidächsli isch es, da, da!
Genau so hat Hanni lesen gelernt. Eigentlich wäre sie vollkommen zufrieden gewesen, schöne Buchstaben zu malen, seitengross, handgross, daumengross, Hauptsache schön. Was sollen da Wörter herauskommen? Aber die Lehrerin wollte gern gelesen bekommen und ich brannte darauf, das Wunder der Geschichte hinter den Buchstaben zu entschlüsseln. So beugten wir uns zusammen über ihr Erstklass-Lesebuch, Hanni sagte mir die Buchstaben vor und ich setzte sie zum Wort zusammen. S-U Su S-U Su K-I-N-D-L-E-I-N Kindle-in Kindlein, draussen geht ein Windlein, S-U S-U S-U. Das ist immer gleich: Su su su. S-U S-U S-U. Nein: Sususu. S-U S-U S-U. Es gab nichts abzukürzen! Hanni buchstabierte unverdrossen diese einfältigen Silben, bis sie das Liedchen erkannte, das sie in der Schule gelernt hatte, dann sang sie den Text laut ins Buch hinein und zeigte mit dem Finger immer am richtigen Ort. Sie konnte einen Text erst lesen, wenn sie ihn auswendig wusste. Wirklich verstehen kann ich’s auch heute nicht, aber ich hatte ab und zu Erstklässler in der Schule, die lange brauchten, um gleiche oder ähnliche Silben zu erkennen und die Wiederholungen zu feiern. Immerhin geriet Hanni dann zur Leseratte und hörte auch in ihren strengsten Familienjahren nicht zu lesen auf.
Kürzlich wollte Hanni etwas aus der Ergotherapie berichten und begann mit Wätter. Sie habe eine Wätter ynetue müssen, es habe kein So gehabt zum Ystecke (Kabel). Luege, so, läse. Leselampe? Ja, Lampe. Wätter yne, nid guet. Wie musstest du denn einsetzen? So (knif!ig mit spitzen Fingern in die Luft gestochen). Als ich noch immer nicht verstand, schrieb sie mit dem Finger auf den Tisch: Batterie. Ach so, musstest du eine Batterie in eine Leselampe einsetzen? Was? Dann begann sie zu buchstabieren wie vor bald siebzig Jahren, um am Schluss !iessend zu wiederholen: Ja, Batterie in e Lampe ynetue. Dumm, nid guet, isch giftig. – Ja, die Ergotherapeutin hat nicht an die geschädigte Umwelt gedacht. Eine Batterie brauchen wir spät am Abend, um mit der Taschenlampe kurz den Kaninchen gute Nacht zu sagen, nicht um stundenlang zu lesen. Und dann noch bei Sonnenschein! Der Inhalt muss Sinn machen, der Technik wegen üben wir nichts.
Jetzt, wo durch den Hirnschlag Wortfindungs- und Lautdurchgliederungsstörungen zusammenkommen, braucht Hanni wieder die Methode des optischen Wortbildes, das sie dann buchstabierend entschlüsselt und ein paar Mal laut wiederholen muss, bis es ihr bekannt vorkommt und sie dem Gebuchstabier eine Seele einhauchen und es in verständlicher Sprachmelodie aussprechen kann.
Herrje, Rösi, wenn Hanni seinerzeit mit Schimpfen und Strafen hätte lesen lernen müssen, könnte sie die Sprache jetzt höchstens mit Tränen und Verzwei!ung neu erwerben! Vielen Dank, dass du sie geschützt und ihr die nötige Zeit gelassen hast! Sie konnte mit Geduld und Liebe lernen. Dadurch hat sie auch im Alter noch Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Vielen Dank für deine Liebe!
Heidi Blaser (Gerber Blaser)
PS: Jede Woche, wenn ich sie wieder besuche, kann Hanni mehr Wörter richtig aussprechen und muss weniger lang herumsuchen. Sogar ganze Sätze sind ihr schon in einem Schnus aus dem Mund ge!ossen, als wäre gar nie ein Knopf in der Leitung gewesen. Die Hoffnung auf Genesung ist berechtigt.