Hilfstransport mit Frutiger Beteiligung

  15.03.2022 Gesellschaft

UKRAINE Seit gestern sind sie wieder da, die Oberländer LKW-Chauffeure, die trotz Hindernissen zwei Sattelschlepper voller Hilfsgüter in das ukrainische Lwiw gebracht haben. Die Geschichte einer Hilfs- und Fluchtaktion.

HANS RUDOLF SCHNEIDER
«Eigentlich wollte mein Chauffeur René Bühlmann nach dem Angriff der Russen Ferien nehmen und mit dem Privatauto seine langjährige Freundin aus ihrer Heimat Ukraine holen», erzählt Martin Steiner, Transportunternehmer aus Frutigen. «Dann kam plötzlich über Umwege die Anfrage von der ukrainischen Botschaft in Bern, ob ich eine humanitäre Fahrt übernehmen könnte.» Daraufhin organisierte er seinen Interlakner Berufskollegen Christian Rubi, der regelmässig für ihn fährt, und sagte zu. Die Kosten für die Fahrt in die westliche Ukraine – Gebühren und Diesel – beziffert Steiner auf mehrere Tausend Franken. Als Sponsorin sagte sofort die Wandfluh AG Hydraulik+Elektronik zu und machte die Fahrt mit den Hilfsgütern und medizinischem Material so erst möglich.

Probleme an der polnischen Grenze
Die Anfrage der Botschaft kam am vorletzten Donnerstag. Am Montag darauf wurden bereits die rund 28 Tonnen Hilfsgüter in Bern verladen, und die zwei Sattelschlepper mit den Oberländern am Steuer machten sich abends auf die Reise ins Ungewisse. Sie führte via Dresden und Chemnitz nach Polen und weiter in Richtung Lwiw, zu deutsch Lemberg. Der Ort liegt gut 70 Kilometer auf ukrainischem Gebiet. Für die insgesamt 1750 Kilometer waren die beiden Fahrer gut 40 Stunden unterwegs. Die einschränkenden Arbeits- und Ruhezeiten mussten nicht eingehalten werden, so kamen die Chauffeure zügig voran.

Dennoch gab es Probleme: Als sie am Dienstagabend um 23.15 Uhr an der Grenze zwischen Polen und der Ukraine eintrafen, ging es nicht mehr weiter. Bis morgens um 7 Uhr wurden sie durch Bürokratie aufgehalten. «Die polnischen Zöllner wollten eine Packliste der Ladung und eine Rechnung sehen», erzählt Martin Steiner kopfschüttelnd. Diese wurden nachts von der ukrainischen Botschaft in Bern angefordert – kamen dann auch per Mail und konnten im LKW ausgedruckt werden. Doch damit nicht genug: Die Rechnung war in kyrillischer Schrift abgefasst, was nicht akzeptiert wurde. Die Unterlagen wurden schliesslich morgens um 3 Uhr nochmals in lateinischer Schrift nachgereicht.

Die Flucht aus Sumy
«Es war erschreckend, wie umständlich die Einreise war. Offenbar kümmerte es die polnischen Grenzer nicht, dass wir mit Hilfsmaterial unterwegs waren», meint Bühlmann ernüchtert. Als sie endlich über die Grenze gelassen wurden, erwartete man die Schweizer in Lwiw bereits. Während der Ablad im ultramodernen Logistikzentrum innert weniger Stunden erfolgte, war René Bühlmanns Freundin Yana noch unterwegs nach Lwiw. Die Chauffeure nutzten die Wartezeit, um ein paar Stunden zu schlafen. Da sie alleine fuhren, war eine Ablösung unterwegs nicht möglich – entsprechend müde waren sie. Ein Cousin brachte die Freundin aus Sumy, einer Stadt mit rund 280 000 Einwohnern etwa 300 Kilometer nordöstlich von Kiew, in knapp viertägiger Fahrt nach Lwiw – mitten aus dem Kriegsgebiet, nach mehreren Versuchen und an militärischen Kontrollposten vorbei. Sumy ist heftig umkämpft und von den Russen eingekesselt. «Yanas Eltern sind dort geblieben», sagt René Bühlmann nachdenklich. Täglich würden Fliegeralarme ausgelöst, und die zurückgebliebenen Einwohner müssten in die Keller flüchten.

Lange Staus an der Grenze
So schnell wie möglich machten sich die beiden Schweizer Sattelschlepper wieder auf die Heimreise. Die Nachrichten verhiessen nichts Gutes von der Entwicklung in der Ukraine. An der Grenze stauten sich am Mittwochnachmittag bei ihrer Ankunft die Lastwagen und Privatfahrzeuge, Flüchtende waren zu Fuss mit Rollkoffern unterwegs oder warteten auf die Ausreise. Und wieder gab es auf der polnischen Seite der Grenze nervenaufreibende Wartezeiten. Die Zöllner verlangten Dokumente und die – inzwischen leeren – Fahrzeuge mussten auf die Waage. Nach 21 Stunden war die Gruppe schliesslich wieder in Polen.

Auf der Rückfahrt haben sich René Bühlmann und Christian Rubi getrennt und an verschiedenen Orten Güter für den Rücktransport in die Schweiz geladen, um nicht unbezahlte Leerfahrten verbuchen zu müssen. «So kann ein Teil der Kosten gedeckt werden», sagt Martin Steiner. Für ihn war es selbstverständlich, den Hilfsgütertransport mit seinen Möglichkeiten zu organisieren und so auch seinen Chauffeur zu unterstützen. Angesichts der Steine, die dem humanitären Transport in den Weg gelegt wurden, würde Bühlmann sich die Zusage für eine weitere Fahrt heute aber länger überlegen als beim ersten Mal.

Das mulmige Gefühl fuhr mit
«Ich kenne die Ukraine von meinen Aufenthalten gut, und was ich jetzt gesehen habe, ist schon sehr bedenklich. Ich hatte zwar nie Angst, aber ein eigenartiges Gefühl, in ein Land im Kriegszustand zu fahren», beschreibt Bühlmann seinen Gemütszustand. «Man weiss ja nicht, was einen erwartet. Sind die Kämpfe bereits bis in den Westen ausgedehnt worden?» Aufgefallen sind ihm unterwegs vor allem die grosse Polizei- und Militärpräsenz sowie die Kontrollposten an den Strassen, oft nur mit Sandsäcken geschützt. Ansonsten machte im Westen des Landes alles einen fast normalen Eindruck – was auch Yana sehr erstaunte, die vor den angreifenden Russen aus dem Osten geflüchtet war. Wie schnell sich die Lage jedoch ändern kann, zeigen die jüngsten Nachrichten: Seit Sonntag beschiessen die Russen auch den Grossraum Lwiw und Stützpunkte nahe der Grenze zu Polen mit Raketen.


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