«Alt werden muss man lernen»
29.07.2025 Reichenbach, KientalMorgen Mittwoch feiert Maria Steiner, die älteste Bewohnerin im Alters- und Pflegeheim jetzt Fröschenmoos, ihren 100. Geburtstag. «100-jährig wird man nur einmal», sagt sie selbst lachend dazu. Ja, und nicht viele schaffen das.
RAHEL ROESTI
Morgen Mittwoch feiert Maria Steiner, die älteste Bewohnerin im Alters- und Pflegeheim jetzt Fröschenmoos, ihren 100. Geburtstag. «100-jährig wird man nur einmal», sagt sie selbst lachend dazu. Ja, und nicht viele schaffen das.
RAHEL ROESTI
Ein Inserat in einer Zeitung hatte die junge Frau aus der österreichischen Ost-Steiermark in den frühen 1950er-Jahren auf die Schweiz aufmerksam gemacht. Küchenhilfen oder dergleichen waren meist gesucht. So verschlug es Maria Steiner vor 70 Jahren nach Frutigen.
Viele der Mädchen seien nach einem halben Jahr wieder in die Heimat zurückgekehrt, sie aber habe wohl zu lange dem hiesigen Jodlerclub zugehört, erzählt die lebensfrohe Frau mit einem Schmunzeln. So habe sie nämlich ihren Ehemann Hermann Steiner kennengelernt, den sie nach einem Jahr Beziehung heiratete. Drei Jahre später kam ihr Sohn zur Welt und noch einmal drei Jahre später gebar sie eine Tochter. Mit ihrer Familie lebte sie auf einem kleinen Bauernhof an Schwandi.
Als ihr Mann vor 20 Jahren starb, hatte sie schon deutlich die Anzeichen gespürt, dass sie ihr Augenlicht verlieren würde. Die Makula-Netzhautablösung schritt langsam voran. Dieser Umstand führte schliesslich zu einem Umzug ins Altersheim in Reichenbach, seit der Fusion mit Frutigen «jetzt Frö- schenmoos» genannt. Heute ist Maria Steiner fast blind.
Es wird nicht langweilig
Beinahe wöchentlich erhält Maria Steiner Besuch von ihrer Tochter, meist freitagvormittags zur Laufgruppe. Interessierte Bewohnerinnen und Bewohner werden von Angehörigen zu einem Spaziergang durch den Fröschenmoos-Wald, vorbei an einem schönen Garten mit Seerosen auf dem Teich, bis nach Mülenen begleitet. Sie sitze dabei im Rollstuhl, geschoben von ihrer Tochter. Trotz schmerzendem Hüftgelenk ist sie so nach wie vor mobil und zeigt sich dafür sehr dankbar.
Auch sonst erhalte sie viel Besuch von Familie und Bekannten. Zudem beteiligt sie sich gerne an Aktivitäten, die vom Altersheim angeboten werden, wie der allwöchentlichen Gesangsgruppe. Für weitere Hobbys wie Weben, Häkeln oder Kochen fehle ihr heute jedoch die Ausdauer. Seit sie vor vier Jahren gleich mehrfach schwer an Corona erkrankt sei, habe sie auch mit dem Tanzen aufgehört.
Maria Steiner ist «gottefroh» noch bei klarem Verstand zu sein, sodass sie den Leuten noch Auskunft geben kann. Und dankbar über einen – für seine 100 Jahre – «einigermassen gesunden Körper». Solch ein Glück hätten nur die wenigsten. Viele ihrer Mitbewohnerinnen und Mitbewohner hätten ihre Erinnerung verloren, könnten nicht mehr reden oder sich bewegen.
Dunkelstes Kapitel
Über den dunkelsten Abschnitt ihres Lebens mag sie allerdings nicht gerne sprechen. Als sie aus der Schule kam, hatte der Zweite Weltkrieg begonnen. Es hiess, sie müsse entweder in den Kuhstall oder aber ins Arbeitslager gehen. «Da bin ich halt in den Kuhstall, das hat mir nicht geschadet.» Als die Russen nach dem Krieg dann über die Grenze gekommen seien – kampfeswild –, hätten sie alles gestohlen, ihr sei nichts mehr geblieben. Wie oft hätten sie und andere Mädchen da unter einem Strohhaufen geschlafen.
Es seien alle vergewaltigt worden, die die Russen erwischten. Zu ihrem grossen Glück habe sie sich auf dem Bauernhof verstecken können. Von den anderen Mädchen lebe heute keine mehr. Sie wolle gar nicht weiter darüber reden, es sei zu brutal gewesen. «Ich esse hier nicht mal einen russischen Salat.»
Der Schlüssel für ein langes Leben
«Hier geht es uns gut», sagt sie über das Altersheim in Reichenbach. «Das Essen ist gut, die Wäsche wird gemacht, schön geglättet und zusammengelegt, das Bett gemacht. Es gibt viel Abwechslung.» Sie brauche verhältnismässig wenig Unterstützung, etwa um den Haarzopf zu binden, die Augentropfen zu verabreichen, das Hörgerät einzusetzen und das Bett zu machen. Alles weitere mache sie noch selber Sogar die Schuhe schnürt sie sich selbst.
Aufmerksamkeit
Das Pflegepersonal in Reichenbach sei sehr aufmerksam. Sie haben Maria Steiner eine kleine Rampe bei der Balkontüre gebaut, damit sie selbsbständig mit dem Rollstuhl nach draussen fahren kann – was sie zum Schluss des Gesprächs auch gleich vorführt. Selbstständig erhebt sie sich aus ihrem Sessel und setzt sich in den Rollstuhl, öffnet die Balkontüre, rollt hinaus und streckt glückselig das Gesicht in die hervorlugende Sonne.
Zum morgigen 100. Geburtstag wird im Pflegeheim jetzt Fröschenmoos ein kleines Fest im Rahmen der Familie gefeiert. Und für die Zukunft wünsche sie sich, auch weiterhin «einigermassen» gesund zu bleiben.
Diese Bescheidenheit, die tiefe Dankbarkeit für die kleinen Dinge, das Positive erkennen, akzeptieren, was nicht geändert werden kann – all das scheint der Schlüssel für ein langes Leben zu sein, und diese Einstellung kann man lernen.