«Beflügelt zu einer heiteren Dreistigkeit»
26.05.2023 GesellschaftZUM PFINGSTFEST Für viele Menschen sieht Religion so aus: ein enges Weltbild, viele Regeln, moralische Vorschriften aus dem letzten Jahrhundert. Doch wer so denkt, hat die Rechnung ohne den Heiligen Geist gemacht – denn der steht für das Gegenteil.
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ZUM PFINGSTFEST Für viele Menschen sieht Religion so aus: ein enges Weltbild, viele Regeln, moralische Vorschriften aus dem letzten Jahrhundert. Doch wer so denkt, hat die Rechnung ohne den Heiligen Geist gemacht – denn der steht für das Gegenteil.
MARK POLLMEIER
Wenn es nicht gerade um ein Schreckgespenst geht, ist «Geist» eigentlich ein positiver Begriff. Ein feingeistiger Mensch kann eine geistreiche Rede halten und uns damit begeistern. Zu dick auftragen sollte er allerdings nicht – sonst wirkt er vergeistigt, also weltfremd und abgehoben. Zu wenig Geist ist aber auch nicht gut. Geistlose Zeitgenossen finden wir ideenlos und langweilig, sie sind uns zu kleingeistig. Und wenn jemand einen Ungeist verbreitet, reagieren wir darauf entgeistert.
Ob positiv oder negativ: Fest steht, dass «der Geist» etwas mit uns macht. Er bringt Bewegung in eine Situation, manchmal sogar urplötzlich: Wer einen Geistesblitz hat, der kann gar nicht anders, als auf der Stelle aktiv zu werden. So gesehen ist der Geist die treibende Kraft in unserem Leben, das belebende Prinzip des Menschen, wie der Philosoph Immanuel Kant es ausdrückt. Ohne Geist keine Idee, keine Bewegung, keine Veränderung.
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Umso erstaunlicher, dass das Geistige bei manchen einen so schlechten Ruf hat – man denke nur an die Diskussion um die sogenannten Geisteswissenschaften. Nicht wenige halten sie für komplett überflüssig: Was produzieren die schon ausser fixen Ideen und nutzlosen Gedanken?
Sicher: Gedanken und Ideen kann man weder essen noch übereinanderstapeln. Aber sind sie deswegen nutzlos? Wer so redet, der müsste konsequenterweise auch jegliche Kunst überflüssig finden, Musik und Theater, Malerei und Literatur. Alle diese «Geistesfrüchte» sind auf den ersten Blick zu nichts zu gebrauchen. Und doch gehören sie zum Schönsten, was einem Menschen widerfahren kann. Das Konzert eines grossen Orchesters kann berauschend sein, ein kurzes Gedicht die Seele berühren. Wer eine Kunstausstellung besucht, erhält überraschende Einblicke und lernt neue Sichtweisen kennen. Manchmal ist es fast so, als würde sich eine Tür öffnen, die bis dahin verschlossen war – ein unerwartetes Aha-Erlebnis.
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Auch das Pfingstwunder, wie die Bibel es beschreibt, muss man sich wohl als ein solches Aha-Erlebnis vorstellen: Der Geist Gottes kommt über die Menge – und danach ist nichts mehr, wie es war. Versammelt hat sich ein verzagtes Häuflein, dessen Idol gerade hingerichtet worden ist. Als die Leute auseinandergehen, sind sie optimistisch, es herrscht Aufbruchstimmung. Gegen jede Wahrscheinlichkeit entsteht aus einer überschaubaren Zahl von Jesus-Anhängern eine Weltreligion, die schliesslich sogar das römische Imperium unterwandert. Angetrieben wird diese Entwicklung – so jedenfalls schildert es die Bibel – vom Heiligen Geist, denn der macht den Menschen «keck, fröhlich, mutig, ja beflügelt ihn zu einer heiteren Dreistigkeit.» (Martin Luther)
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Es lohnt sich, Luthers Worte zwei- oder dreimal zu lesen. Obwohl sie schon 500 Jahre alt sind, räumen sie mit einem verbreiteten Missverständnis auf: dass nämlich die christliche Religion so etwas sei wie betreutes Denken. Folgt man Luther, ist eher das Gegenteil der Fall: Wenn der Heilige Geist in einen Menschen fährt, dann ist mit allem zu rechnen – auch mit heiterer Dreistigkeit.
Nach diesem Verständnis geht es in der Religion also nicht darum, sich an Regeln und Vorschriften zu halten und irgendetwas nachzubeten. Religion sei «kein Sklavendienst und keine Gefangenschaft», schrieb der Theologe Friedrich Schleiermacher Ende des 18. Jahrhunderts, «auch hier sollt ihr euch selbst angehören». Die Botschaft ist deutlich: Mit Zwang und Druck hat Religion nichts zu tun. Man kann sie nicht «lernen» und sich aneignen. Religion ist unfassbar, unverfügbar.
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Bleibt die Frage, wie der Mensch dann überhaupt zur Religion kommen soll. Für Luther ist klar: Es ist der Geist Gottes, der den Glauben schenkt. Wann und wie er das tut, lässt sich nicht steuern. Es geschieht in einem «geheimnisvollen Augenblick», wie Schleiermacher es formuliert. Oder mit den Worten des Johannesevangeliums: «Der Geist bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weisst nicht, woher er kommt und wohin er fährt.»
Wer möchte, kann dem Heiligen Geist freilich die Arbeit erleichtern. Luther empfiehlt dazu das Wort Gottes: Nur, wo die gute Nachricht von Jesus Christus gepredigt oder gelesen werde, könne der Heilige Geist wirken. Ohne Bibel kein Geist und kein christlicher Glaube.
Friedrich Schleiermacher, geprägt von den Nachwehen der Aufklärung, ist da liberaler. Für ihn ist Religion ein Prozess, ein steter Neuanfang – und der kann sich zum Beispiel auch ereignen, wenn man sich mit Kunst beschäftigt. Allerdings setzt auch Schleiermacher dafür einen gewissen «Sinn» voraus, eine Offenheit für die religiöse Erfahrung.
In diesem Sinn hält das bevorstehende Pfingstfest für beide Seiten eine gute Nachricht bereit. Wer mit der Religion nichts am Hut hat, kann dem Heiligen Geist offenbar ganz gut aus dem Weg gehen. Wer sich aber be-geistern lassen möchte, muss nichts weiter tun, als ihm die Tür zu öffnen. Ob er das mit einem Kirchgang tut, mit einem Museumsbesuch oder einem Spaziergang in der Natur, ist dann vielleicht gar nicht mehr so wichtig.