Betreuende Angehörige sind unverzichtbar
31.10.2025 GesellschaftÜber eine halbe Million Menschen in der Schweiz betreuen oder pflegen unentgeltlich ihre Angehörigen. Dies entlastet die öffentliche Hand finanziell in Milliardenhöhe, bringt aber gleichzeitig viele Angehörige an ihre Grenzen.
RACHEL HONEGGER
Über eine halbe Million Menschen in der Schweiz betreuen oder pflegen unentgeltlich ihre Angehörigen. Dies entlastet die öffentliche Hand finanziell in Milliardenhöhe, bringt aber gleichzeitig viele Angehörige an ihre Grenzen.
RACHEL HONEGGER
«Ich habe erst im Nachhinein realisiert, was ich alles geleistet habe», erzählt Peter Willen (82). Jahrelang hat er nach der Frühpensionierung seine Frau Rosmarie zuhause betreut, teilweise auch gepflegt, bis die Belastung zu gross wurde. Einen Tag pro Woche entlastete ihn seine Tochter. Heute lebt Rosmarie Willen im Alters- und Pflegeheim jetzt Fröschenmoos in Reichenbach.
«Das war der schlimmste Entscheid meines Lebens», blickt Peter Willen auf den Moment zurück, als klar wurde: Es geht nicht mehr zuhause. Schuldgefühle hätten an ihm genagt, auch wenn er wusste, dass dieser Schritt unumgänglich war. Man könnte meinen, damit habe seine Rolle als betreuender Angehöriger geendet. Dem ist aber ganz und gar nicht so, erklärt Sandra Wittwer, Angehörigensupport bei der jetzt Frutigland AG, welche die Altersheime in Frutigen und Reichenbach betreibt.
Wichtig ist der emotionale Support
Bei einem Heimeintritt würden zwar die pflegerischen Aspekte für das private Umfeld geringer, aber man bleibe weiterhin betreuender Angehöriger.
Angehörige, vertieft Wittwer, schlagen die Brücke vom Leben davor zum Leben im Heim. «Sie sind für uns als Institution eine riesengrosse Ressource und entlasten die Heime. Natürlich unterscheidet sich von Fall zu Fall, in welchem Ausmass Angehörige in den Pflege- und Betreuungsprozess miteinbezogen werden möchten.» Deren Engagement reiche von der Begleitung zu Arztbesuchen, Coiffeur oder Physiotherapie über die Erledigung administrativer und finanzieller Angelegenheiten bis hin zur Absprache mit Pflege und Ärzten. «Die Angehörigen sind Dreh- und Angelpunkt für so viele Angelegenheiten, sie sind Koordinationsstelle und Verantwortungsträger.» Und ganz wichtig, betont Sandra Wittwer, sei die emotionale Unterstützung der Heimbewohnenden durch ihre Angehörigen.
Keine Energie, um Entlastung zu organisieren
Für viele, gerade ältere Personen, seien diese Aufgaben so selbstverständlich, dass sie sich gar nicht als betreuende Angehörige verstehen würden, ergänzt Wittwer. Vor allem auch dann, wenn die zu betreuenden Personen noch zuhause leben. «Die Angehörigen wachsen in diese Aufgaben hinein, übernehmen immer mehr und kommen teilweise in eine Überbelastung, ohne dies wirklich zu realisieren. Interessanterweise gibt es mittlerweile ein riesiges Angebot an Entlastungsmöglichkeiten und Informationen dazu. Doch die Angehörigen nehmen diese häufig nicht in Anspruch oder wissen nichts davon. Entweder weil sie sich nicht angesprochen fühlen oder weil sie schlicht keine Kapazität und Energie mehr haben, sich diese Informationen zu holen oder die Entlastung zu organisieren.» Oft wüssten sie auch gar nicht, wo sie suchen müssten oder wen sie anfragen könnten.
Denn es gebe zwar inzwischen etliche Angebote, aber auch einen ziemlichen Dschungel, um an die richtigen Informationen zu gelangen. Aus Wittwers Sicht würden die Angehörigen auch von Fachpersonen wie Hausärzten und Hausärztinnen zu selten auf ihre Situation angesprochen. Oft stehe nur der Patient im Fokus.
Schlaflose Nächte
Peter Willen habe damals von Sandra Wittwer den «Mupf» bekommen, für seine Frau einen Heimplatz in Anspruch zu nehmen. Vor dreissig Jahren habe seine Frau die Diagnose Parkinson erhalten. Und so habe sich nach Willens Frühpensionierung der Alltag anders entwickelt als erhofft. «Schon damals, als es darum ging, die Medikamente einzustellen, musste ich sie oft zum Neurologen begleiten.» Auch er sei nach und nach in seine Aufgabe hineingewachsen, habe immer mehr pflegerische und betreuende Aufgaben übernommen.
«Am Anfang konnte sie im Haushalt noch einiges machen, aber je länger, je mehr war dies nicht mehr möglich. Eine Zeit lang haben wir dies noch zusammen erledigt, aber bald schon habe ich auch den Haushalt alleine geführt. Ab und zu wollte sie noch ein wenig helfen, aber es ist dann nicht immer gelungen.» Schon nach seiner Pensionierung liess es der Gesundheitszustand seiner Frau nicht mehr zu, dass er sie alleine liess. Das bedeutete auch, dass er selber nichts mehr alleine unternehmen konnte. Er half ihr beim Duschen, musste sie zur Toilette begleiten, später verabreichte er die Medikamente und fand irgendwann auch nachts keine Ruhe mehr. «Jegliche Bewegung in der Nacht war ein Zeichen, dass sie etwas wollte. Ich bin bei der kleinsten Regung schon aufgewacht, meine Antennen waren fein eingestellt. Bis ich jeweils wieder einschlafen konnte, kam schon der nächste Einsatz.»
Der Heimeintritt wurde unausweichlich
Als die Nächte immer belastender wurden, hat Sandra Wittwer den stationären Heimeintritt thematisiert. Mit Peter Willen war sie bereits im Kontakt, weil seine Frau seit geraumer Zeit in der Tagesbetreuung des Altersheims war – anfangs nur einen Tag pro Woche, später zwei, bis auch die Wochenendbetreuung mit einer Übernachtung notwendig wurde, damit Willen wenigstens ab und zu durchschnaufen konnte. Immer wieder habe Sandra Wittwer ihn gefragt: «Wie lange schaffst du das noch? Isst du noch, trinkst du noch?» Ihre Arbeit habe auch grossen präventiven Charakter.
Denn nur, wer gut zu sich selber schaue, könne auch zu anderen schauen. Und so kam unweigerlich der Moment, als sie Peter Willen bestärken musste, seine Frau ins Heim zu geben, bevor er selber zusammenbrechen würde und hospitalisiert werden müsse. Nicht bei allen Angehörigen sei sie gleich stark involviert, dies sei sehr individuell auf die einzelnen Situationen und Bedürfnisse abgestimmt.
jetzt Frutigland sagt Danke
Wichtig ist ihr aber, dass die Arbeit der betreuenden Angehörigen wertgeschätzt wird. Deswegen hat die jetzt Frutigland AG gestern zum nationalen Tag der betreuenden Angehörigen das private, betreuende Umfeld der Heimbewohnenden zu einem gemütlichen Nachmittag eingeladen, um ihnen auch einmal ganz offiziell Danke zu sagen. «Es ist so wichtig, dass wir die Gesellschaft sensibilisieren und sichtbar machen, wie viele betreuende Angehörige es gibt. Denn ohne sie geht es nicht.» Und so ist auch Peter Willen heute noch in die Betreuung seiner Ehefrau engagiert und leistet einen wertvollen Beitrag zu ihrem Wohl und zur Entlastung des Heims.
All die Jahre sei die Unterstützung durch den Angehörigensupport von Sandra Wittwer, sowohl auf emotionaler wie auch auf organisatorischer Ebene, für ihn eine grosse Stütze gewesen – und sei es immer noch. Wichtig ist ihm auch zu betonen, dass er von seiner Frau und durch ihr Schicksal sehr viel gelernt habe und dass sie dabei auch schöne Zeiten hatten. Jeden Tag küsst er morgens das Foto von ihr, das auf seinem Nachttisch steht, und wünscht ihr so einen guten Tag. Mehrmals pro Woche besucht er sie im Heim. Doch heute kann er auch wieder freie Tage und unbeschwerte Stunden geniessen – gelegentlich in den Bergen, beim Mithelfen auf der SAC-Balmhornhütte, die für ihn ein wahrer Kraftort wurde, oder beim Heuen mit seinem Neffen.

