Chronobiologie: Die Wissenschaft von der inneren Uhr
16.09.2022 GesundheitGESUNDHEITSECKE Wie funktioniert unser natürlicher Taktgeber? Wie kann das Wissen über die Geheimnisse dieses überlebenswichtigen Rhythmus genutzt werden? Die Chronobiologie gibt Antworten.
Wer weit reist, weiss aus eigener Erfahrung, wie untrennbar unser ...
GESUNDHEITSECKE Wie funktioniert unser natürlicher Taktgeber? Wie kann das Wissen über die Geheimnisse dieses überlebenswichtigen Rhythmus genutzt werden? Die Chronobiologie gibt Antworten.
Wer weit reist, weiss aus eigener Erfahrung, wie untrennbar unser Schlaf-Wach-Rhythmus mit der inneren Uhr verknüpft ist. Innerhalb kürzester Zeit durch mehrere Zeitzonen zu fliegen, kann deren Takt ziemlich durcheinanderbringen. Empfindliche Menschen spüren bereits die eine Stunde Unterschied bei der Umstellung der Sommerund Winterzeit.
Der zentrale Taktgeber, der die innere Uhr kalibriert, ist das Licht. Das entscheidende Hormon des 24-Stunden-Rhythmus ist das Melatonin, das während der Nacht in der Zirbeldrüse (der «Herrin über den Schlaf») kontinuierlich im Gehirn produziert wird. Trifft das erste Morgenlicht auf die Netzhaut, beginnt dort die Produktion der «Wachhormone» wie Serotonin und Cortisol, bis das rötliche Abendlicht wieder die Umstellung auf Melatonin signalisiert.
Genetisch festgelegte Zeitgeber
Diesem Wechsel von Licht und Dunkelheit kann sich kein Lebewesen entziehen. Lange Zeit waren die biologischen Hintergründe der sich wiederholenden Vorgänge in Organismen jedoch wenig erforscht. Das Wissen um ihre Bedeutung und die Zusammenhänge war überschaubar, ebenso Möglichkeiten der Prävention, Behandlung und Heilung entsprechender Krankheiten. Erst vor gut 30 Jahren entstand jener Wissenschaftszweig, der die genetisch festgelegten inneren Zeitgeber und ihre Mechanismen erforscht: die Chronobiologie (griech. chronos = Zeit).
Ein im Gehirn tickender 24-Stunden-Rhythmus steuert die zyklischen Abläufe im Körper und stimuliert über seine Impulse rund 150 Botenstoffe, Hormone oder Neurotransmitter, die Gewebe und Organe über die aktuelle Zeit und ihre Aufgaben informieren. Die innere Uhr wird dabei nicht nur vom Licht, sondern auch von anderen Faktoren wie der Temperatur beeinflusst.
Der Einfluss der sich überlagernden Rhythmen
Der Körper unterliegt mehreren wiederkehrenden Abläufen. Manche laufen innerhalb eines Tages ab, wie der Wach-Schlaf-Zyklus. Andere, wie etwa der Menstruationszyklus der Frau, dauern deutlich länger als einen Tag. Es gibt aber auch Vorgänge, die sich mehrmals täglich wiederholen, zum Beispiel das Hungergefühl zwischen den Mahlzeiten. Alle diese Rhythmen überlagern sich und steuern im Zusammenspiel die Körperfunktionen.
Das bedeutet aber: Der menschliche Körper arbeitet nicht einfach 24 Stunden lang immer gleich. Verschiedene Hormone werden zu unterschiedlichen Tageszeiten produziert und einzelne Organe sind morgens, abends oder nachts aktiver. Schon im Tagesverlauf ändern sich also sämtliche Körperfunktionen und -vorgänge.
Während dieses Wissen bei uns erst seit einigen Jahrzehnten bekannt ist, orientiert sich die traditionelle chinesische Medizin schon seit mehr als 2000 Jahren daran. Zunehmend greift auch die westliche Medizin und die Ernährungswissenschaft chronobiologische Erkenntnisse auf und profitiert von diesem Wissen.
Medizin wirkt am besten zur richtigen Zeit
Etwa fünfzehn Prozent der menschlichen Gene zeigen eine tagesabhängige Aktivität, und für jeden Menschen tickt die innere Uhr individuell unterschiedlich. Das bedeutet, dass Ergebnisse medizinischer Untersuchungen und die Wirkung von Medikamenten auch von der Tageszeit und der Person abhängig sind. Für die Einnahme von Medikamenten oder die Aussagekraft diagnostischer Untersuchungen wäre es darum vorteilhaft, den optimalen Zeitpunkt zu kennen. Ein an der Berliner Charité entwickelter Bluttest soll dieses Abstimmen auf den Körperrhythmus in naher Zukunft ermöglichen. Damit könnten die Aussagekraft von Untersuchungen erhöht, die Wirksamkeit von Medikamenten verbessert und ihre Nebenwirkungen reduziert werden.
Aus Studien über die zeitlich bedingte Wirkung von Medikamenten (Chronopharmakologie) weiss man, wie der genaue Einnahmezeitpunkt die Wirkung am Zielorgan verstärken, Nebenwirkungen verringern oder einen physiologischen Prozess komplett unterbrechen kann. So ist eine Chemotherapie am effektivsten zu der Zeit, wenn sich die Tumorzellen teilen. Zudem existieren Zeitfenster, in denen gesunde Zellen weniger stark in Mitleidenschaft gezogen werden und unerwünschte Nebenwirkungen kleiner sind. Bekannt ist, dass Bestrahlungen bei Gebärmutterhalskrebs am Nachmittag effizienter wirken und besser vertragen werden.
Auch Rheumapatienten, die mit dem bewährten Entzündungshemmer Prednison (einem Cortisonpräparat) behandelt werden, profitieren von den Erkenntnissen der Chronopharmakologie. Das Medikament kann abends eingenommen werden und ist darauf ausgelegt, den Wirkstoff mit einer Verzögerung von vier bis sechs Stunden nach der Einnahme freizusetzen. So wirkt er frühmorgens, wenn auch der physiologische Cortisonspiegel seinen Höhepunkt erreicht – und damit zum optimalen Zeitpunkt.
BEAT INNIGER, OFFIZIN-APOTHEKER FPH, ADELBODEN
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Der 25-Stunden-Tag – Biologie aus der Isolation
Von Mitte der 1960er-Jahre bis 1989 verbrachten 447 Versuchspersonen freiwillig eine gewisse Zeit in einem bayerischen Bunker. Die Unterkünfte waren wohnlich eingerichtet, aber komplett abgeschirmt von der Aussenwelt sowie vom Tageslicht – und damit völlig losgelöst von allem, was die Zeit auch nur irgendwie takten konnte. Während ihres Aufenthalts von rund einem Monat im Versuchslabor absolvierten die Versuchspersonen chronobiologische Experimente mit dem Ziel, herauszufinden, ob der Mensch ein inneres Gespür für Tag und Nacht besitzt. Dabei entschieden sie absolut selbstständig, wann sie aufstanden oder zu Bett gingen. In der Regel schliefen sie acht Stunden und waren die übrige Zeit wach.
Erstaunlicherweise stimmte der innere Takt der Versuchsteilnehmer nicht mit der effektiven äusseren Zeit überein. Die meisten erwachten jeden Tag ein wenig später, als ob ihre innere Uhr nachhinkte. So schliefen sie täglich etwa eine Stunde länger und nach 24 Tagen hatten sie in ihrem Bunker-Rhythmus einen gefühlten Tag weniger gelebt und zeigten sich regelmässig überrascht, wenn ihnen vermeintlich zu früh ihre Freiheit wieder geschenkt wurde.
Bereits in ihrer ersten Publikation «Spontanperiodik des Menschen bei Ausschluss aller Zeitgeber» berichteten die Studienleiter: «Von neun geprüften Versuchspersonen haben acht eine sicher von der Erddrehung abweichende Spontanfrequenz. (…) Mit einer kürzesten Periodendauer von 24,7 und einer längsten von 26,0 Stunden ist die Streuung zwischen den acht Personen überraschend gering.»
Im Nachhinein empfanden die «Bunkerbewohner» die intensive Erfahrung übrigens als positiv, Abbrüche kamen nur selten vor.
BI
Ein Nobelpreis für «Wie tickt die innere Uhr?»
Nach über dreissig Jahren Forschung wurden drei amerikanische Wissenschaftler 2017 für ihre Beiträge zur Entschlüsselung der inneren Uhr mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Das Nobelpreis-Komitee des Karolinska-Instituts begründete die Preisvergabe folgendermassen:
«Das Leben auf der Erde richtet sich nach der Rotation des Planeten. Schon lange ist bekannt, dass Lebewesen, der Mensch eingeschlossen, eine innere, biologische Uhr haben. Sie hilft uns dabei, uns an den Tagesrhythmus anzupassen. Jeffrey C. Hall, Michael Rosbash and Michael W. Young haben in das Innere unserer biologischen Uhr gespäht und deren Funktionsweise ausgeleuchtet. Ihre Entdeckungen erklären, wie Pflanzen, Tiere und Menschen sich an biologische Rhythmen anpassen und so synchron zur Erdrotation leben.»
Bei ihren Forschungen an Fruchtfliegen, die in der Genetik als exemplarische Modellorganismen gelten, identifizierten sie in den 1980er-Jahren ein Gen, das den täglichen Biorhythmus bestimmt. Dieses codiert ein Protein, das sich nachts in Zellen anhäuft und sich in einem «verräterischen 24-Stunden-Rhythmus» tagsüber wieder abbaut.
Doch nur ein einzelnes Gen zur Erklärung der hoch komplexen Koordination der Inneren Uhr heranzuziehen, erschien den Forschern doch zu einfach. Insbesondere die Frage, wie eine Zelle den Startpunkt eines Zyklus festlegt sowie dessen Anpassungsfähigkeit konnte damit nicht beantwortet werden.
Erst die Entdeckung weiterer Gene und die Wechselwirkungen ihrer Produkte konnten die komplexen Zusammenhänge erhellen.
Insgesamt funktioniert die innere Uhr als System von ineinander verschachtelten Kreisläufen, die sich gegenseitig beeinflussen und auf äussere Einflüsse wirken können.
BI
Eine Nobelpreismedaille, wie sie unter anderem für bahnbrechende medizinische Erkenntnisse verliehen wird.
BILD: JEANLUC / STOCK.ADOBE.COM