Darf’s mal ein bisschen weniger sein?
31.12.2024 GesellschaftESSAY Die wohlstandssatten Gesellschaften des Westens haben ein Problem: Die Aussicht, dass es stets nur aufwärtsgeht, dass immer alles besser wird, hat sich eingetrübt. Selbst junge Menschen blicken so pessimistisch in die Zukunft wie lange nicht. Man könnte auch sagen: ...
ESSAY Die wohlstandssatten Gesellschaften des Westens haben ein Problem: Die Aussicht, dass es stets nur aufwärtsgeht, dass immer alles besser wird, hat sich eingetrübt. Selbst junge Menschen blicken so pessimistisch in die Zukunft wie lange nicht. Man könnte auch sagen: realistisch, und das ist vielleicht gar nicht so verkehrt.
MARK POLLMEIER Fussballstars, die international erfolgreich sind, verdienen in der kurzen Zeit ihrer Karriere Millionen. Der Mittelfeldspieler Jesper Blomqvist war da keine Ausnahme. Mit der schwedischen Nationalmannschaft wurde er 1994 sensationell WM-Dritter. Er spielte in Mailand und Parma und holte mit Manchester United drei englische Meistertitel. 1999 gewann er in einem spektakulären Match gegen Bayern München die Champions League. Spätestens da war Jesper Blomqvist mehrfacher Millionär.
Aber er blieb es nicht. Nachdem er seine aktive Karriere beendet hatte, pflegte er einen ausschweifenden Lebensstil und gab das Geld mit vollen Händen aus. Nach ein paar geschäftlichen Fehlentscheidungen und einer kostspieligen Scheidung stand Blomqvist plötzlich mittellos da. Eine Zeitlang versuchte er sich als Trainer und tingelte durch die Fernsehshows, um sich irgendwie durchzuschlagen. Und gerade, als alles nach einer echten Sportler-Tragödie aussah, fand Jesper Blomqvist seine Bestimmung: Er wurde Pizzabäcker.
Zuerst arbeitete er in einer kleinen Imbissbude, die Hände im Teig, Mehl im Gesicht, die Schürze voll Tomatensauce. Andere wären angesichts dieses Abstiegs vielleicht verzweifelt. Doch Blomqvist sagt über seinen Job am glühenden Pizzaofen, er sei noch nie so glücklich gewesen. Die einfachen Dinge im Leben seien doch die wichtigsten: die tägliche Arbeit, der Umgang mit Menschen, etwas Gutes zu essen und zu trinken. Mehr brauche man nicht.
Inzwischen hat sich der frühere Fussballstar etabliert. In Stockholm betreibt er seit einigen Jahren ein Restaurant namens «450 Gradi». Noch immer versucht er, die perfekte neapolitanische Pizza zu backen, heute allerdings mit Unterstützung einiger Angestellter. In Interviews sagt Blomqvist, er könne sich vorstellen, den Rest seiner Tage dieses Restaurant zu führen.
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Auch wenn Jesper Blomqvist vielleicht nie ganz unten war, so ist seine Geschichte doch aussergewöhnlich. Er war steinreich, verlor alles und nahm es gelassen. Mehr noch: Er scheint heute zufriedener zu sein als zu der Zeit, als er noch Fussballmillionär war.
Weit verbreitet ist eine solche Einstellung nicht. Im Gegenteil: Die meisten Menschen richten sich in ihrem Wohlstand gemütlich ein und verteidigen ihn dann erbittert. Den erreichten Lebensstandard wieder zu verlieren, gar abzusteigen: Diese Vorstellung macht heute vielen Angst. Die Sorge vor einem Statusverlust treibt nicht nur Reiche und Superreiche um, sondern hat längst die Mittelschicht erfasst. Vom «Status-Stress» sprechen die niederländischen Organisationspsychologen Daan Scheepers und Naomi Ellemers. Selbst Menschen mit sicherem Arbeitsplatz und guten Ersparnissen blicken heute pessimistisch in die Zukunft – nicht ganz zu Unrecht.
Die Welt ist unübersichtlich geworden, weniger planbar. Früher galt die Regel, dass derjenige, der fleissig ist und sich anstrengt, es zu etwas bringen kann. Heute steht diese Annahme auf wackligen Füssen. Es gibt keine Sicherheiten mehr. Jederzeit kann irgendwo auf dem Globus etwas passieren, das schwerwiegende Folgen auf das eigene Leben hat: ein Finanzkollaps, eine Pandemie, ein Krieg oder irgendeine andere Krise. Diese diffuse Bedrohung, gegen die der Einzelne machtlos ist, verunsichert viele. Sie müssen ständig damit rechnen, dass sich ihre Situation von heute auf morgen verschlechtert – und zwar aus Gründen, die sie nicht beeinflussen können.
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Angst vor dem Abstieg haben naturgemäss vor allem die Älteren, jene, die sich bereits etwas erarbeitet haben. Aber auch die Jungen blicken pessimistisch in die Zukunft. Den einen macht die Sorge ums Klima zu schaffen. Sie befürchten, ihr Leben in einer Welt zu verbringen, die wegen der Erderwärmung nicht mehr allzu lebenswert sein wird. Andere sind frustriert, weil sie annehmen müssen, nie den Lebensstandard ihrer Eltern zu erreichen. Ein eigenes Haus? Eine sichere Pension? Gute Pflege im Alter? Fehlanzeige.
Die Gewissheit, dass es jede Generation einmal besser haben wird als die vorherige, hat sich weitgehend aufgelöst. Der deutsche Sozialforscher Klaus Hurrelmann, der jungen Menschen seit Jahrzehnten den Puls fühlt, hat in dieser Altersgruppe ein Gefühl von «Ohnmacht» und – als Folge der Corona-Krise – von «absoluter Vernachlässigung» ausgemacht. Junge Frauen und Männer sind so negativ gestimmt wie lange nicht. Viele sehen die eigene Zukunft nicht als Verheissung, sondern als Drohung.
Dabei sind Krisen und Umbrüche nichts Neues. Auch frühere Generationen wurden schon als «verlorene Generation» bezeichnet, etwa, weil ihre Jugendjahre in die Zeit eines Krieges fielen. Bisher konnte die Gesellschaft solche Phasen jedoch stets kompensieren, weil der Glaube an eine bessere Zukunft intakt blieb. Selbst nach Kriegen und Katastrophen durfte man davon ausgehen, dass es wieder aufwärts geht, dass die Welt besser, gerechter, sozialer wird.
Ein Beispiel dafür ist die Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Obwohl viele Länder schwere Verluste erlitten hatten, erlebte der Kontinent in den Jahrzehnten nach 1945 einen ungeahnten ökonomischen und sozialen Aufstieg. Selbst Deutschland stand nach einem «Wirtschaftswunder» wieder blendend da. Die Gesellschaft wurde liberaler, der Sozialstaat spendabler. Der gerade überwundene Krieg war bald vergessen, es schien immer nur aufwärtszugehen.
Die Fassade des ewigen Fortschritts hatte freilich schon in den 1970er-Jahren Risse bekommen. Ölkrisen und Inflation versetzten dem scheinbar immerwährenden Aufschwung einen empfindlichen Dämpfer. Der «Club of Rome» warnte in seinem «Bericht zur Lage der Menschheit» vor den Grenzen des Wachstums. Selbst die CO2bedingte Erderwärmung prognostizierten Wissenschaftler früh. Auch in der Schweiz kursierten vor 50 Jahren schon entsprechende Klimamodelle, die rückblickend erstaunlich präzise waren.
Warnzeichen gab es also genug – nur dass sie von der breiten Masse nicht ernst genommen wurden. Das lag auch am weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts. Ende der 1980er- / Anfang der 1990er-Jahre implodierte der «Ostblock», Demokratie und Marktwirtschaft schienen obsiegt zu haben. Der US-Politologe Francis Fukuyama sah in einem viel beachteten Zeitungsartikel das «Ende der Geschichte» erreicht. Was Fukuyama aber auch schrieb: «Der einzige wirkliche Konkurrent der Demokratie in der Welt der Ideen ist heute der radikale Islamismus.»
Am 11. September 2001 sollte sich dieser Satz schlagartig bewahrheiten. Mit den Anschlägen in New York wurde deutlich, dass «der Westen» wohl doch nicht einfach gewonnen hat. Seitdem geben sich die Kriege und Katastrophen sozusagen die Klinke in die Hand, und über allem schwebt die Sorge vor der vielleicht grössten Herausforderung der nächsten Jahrzehnte, dem Klimawandel. Auch wenn es zuletzt wieder ordentlich geschneit hat, ist längst nicht mehr sicher, dass es im Berner Oberland in 20 Jahren noch den klassischen Wintertourismus geben wird. Die Erderwärmung macht sich nicht nur in schneearmen Wintern bemerkbar, sondern auch in den Sommermonaten, wenn der Fels der Alpen bröckelt und Hochwasser grosse Schäden anrichten.
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Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz komprimiert die Häufung von Krisen und Bedrohungen auf einen einzigen Begriff: den Verlust. Die Gesellschaft habe jahrzehntelang relativ erfolgreich verdrängt, dass es nicht immer nur aufwärtsgeht und dass Kriege und Katastrophen möglich sind – auch vor der eigenen Haustür. Dass die Einschläge nun buchstäblich näher kommen, ist eine Erfahrung, die man zumindest in Westeuropa nicht mehr kennt: Es kann auch uns treffen.
Das neue Gefühl der Unsicherheit und des Pessimismus hat nicht nur persönliche Folgen, etwa in Form psychischer Erkrankungen. Es zeigt sich auch auf der grossen Bühne: in der Politik. Dass die US-Amerikaner zum zweiten Mal Donald Trump gewählt haben, wird vor allem mit den Verlustängsten breiter Bevölkerungsschichten begründet. Gestiegene Preise, Inflation, illegale Zuwanderung: Viele Amerikaner trauen den bisher Regierenden nicht zu, solche Probleme zu lösen. Hinzu kommt, dass der american dream nicht mehr realistisch erscheint: dass ein Tellerwäscher es zum Millionär bringen kann, wenn er sich nur anstrengt.
Zu den ökonomischen Verlustängsten kommt das Gefühl, dass die eigene Identität bedroht ist. Teile der Bevölkerung verärgert, dass ihre Ansichten und Lebensentwürfe als nicht mehr zeitgemäss gelten – auch das eine schmerzliche Form des Verlusts.
Populisten wie Trump wissen solche Befindlichkeiten aufzugreifen und in politisches Kapital zu verwandeln. Der Slogan «Make America great again» gaukelt vor, es gebe ein Zurück zu früher, als die Welt noch in Ordnung war. Doch diese Welt existiert nicht mehr. Die Globalisierung, die weltweiten Migrationsströme oder der Klimawandel sind Realitäten, die man nicht mit ein paar politischen Entscheiden stoppen oder rückgängig machen kann – schon gar nicht als einzelnes Land. Die Verlusterfahrungen, die manche durch diese Entwicklungen machen werden, wird auch ein Donald Trump nicht auffangen können. Im Gegenteil: Indem er seinen Wählern unrealistische Versprechungen macht, wird er nur weitere Enttäuschungen produzieren. Es gibt kein Zurück in die gute alte Zeit – schon deshalb nicht, weil sich die globalen Kräfteverhältnisse in den letzten 50 Jahren fundamental verschoben haben. Europa und die USA haben sich daran gewöhnt, dass sie international den Ton angeben und dass die Gewinne am Ende bei ihnen hängen bleiben. Ob das so bleiben wird, ist fraglich.
Auch in Europa versuchen populistische Parteien, Verlusterfahrungen und -ängste zu bewirtschaften. Dass sie damit erfolgreich sind, liegt auch an den Versäumnissen der gemässigten politischen Kräfte. Die Zukunftseuphorie ist in Teilen der Gesellschaft verflogen, die Kollateralschäden unseres bisherigen Lebenswandels werden immer offensichtlicher. Wie kann es angesichts der enormen Herausforderungen weitergehen? Darauf hat die Politik keine befriedigende Antwort. Jahrzehntelang waren Wahlkämpfe geprägt von Schlagworten wie Wachstum, Fortschritt und Sicherheit. Solche Versprechungen haben sich abgenutzt; sie sind nicht mehr glaubwürdig. 2008 konnte Barack Obama noch mit einem schlichten «Yes, we can» US-Präsident werden. Wenige Tage, bevor sein Nachfolger Donald Trump ins Weisse Haus einzieht, wirkt dieser Wahlkampfslogan seltsam hohl – ähnlich wie Angela Merkels «Wir schaffen das» in der Flüchtlingsdebatte von 2015.
In der Schweiz sind solche pathetischen Leitsätze eher selten, auch weil die Politik weniger von einzelnen Personen geprägt ist. Das aber sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Herausforderungen hierzulande dieselben sind wie in vielen anderen Ländern. Auch für die Schweiz gilt: Eine Garantie für ewigen Fortschritt und Wohlstand gibt es nicht. Ob Migration oder Klimawandel, ob demografische Entwicklung oder EU-Vertrag: Entscheide zu solchen Megathemen können richtig sein und trotzdem zu Einschränkungen und Verlusterfahrungen führen. Aufgabe der Politik ist es, der Bevölkerung dazu reinen Wein einzuschenken. Aufgabe der Bürger-Innen ist es, sich keinen Illusionen hinzugeben. Fortschritt kann (und darf) nicht mehr bedeuten, von allem immer mehr zu haben: mehr Reichtum, mehr Zuwanderung, mehr Autos, mehr Häuser, mehr Touristen, mehr Konsum.
Vielleicht haben junge Menschen das schon begriffen, die viel gescholtene Generation Z, die lieber lebt, als rund um die Uhr für Geld und Statussymbole zu schuften. Ihr Vorbild könnte Jesper Blomqvist sein: ein ehemaliger Fussballstar und Millionär, der heute in Stockholm Pizza backt und damit glücklich ist.