Das Klima bremst das Material am Spitzen Stein
20.12.2022 KanderstegDas trockene Jahr 2022 hat die Rutschgeschwindigkeit am Felsmassiv reduziert. Was das für die Zukunft bedeutet, haben Fachleute letzten Freitag an einem Infoanlass erklärt.
PETER ROTHACHER
Die Bewegungsraten am Spitzen Stein würden zwischen 0,3 und ...
Das trockene Jahr 2022 hat die Rutschgeschwindigkeit am Felsmassiv reduziert. Was das für die Zukunft bedeutet, haben Fachleute letzten Freitag an einem Infoanlass erklärt.
PETER ROTHACHER
Die Bewegungsraten am Spitzen Stein würden zwischen 0,3 und 0,8 Zentimeter pro Tag liegen. Kleinere Sturz- oder Rutschereignisse könnten aber trotz Winterberuhigung jederzeit eintreten. Deren erwarteter Wirkungsraum beschränke sich jedoch auf die dauerhafte Sperrzone, in der zurzeit die Gefahrenstufe «mässig» gelte. Diese Informationen waren ab Freitagmittag auf der Website der Gemeinde Kandersteg zu lesen. Und das Wichtigste: «Bewohntes Gebiet ist nach aktuellem Kenntnisstand weder durch Sturz- noch Murgangereignisse gefährdet. Dies gilt auch für alle offenen Bereiche im Gebiet Oeschinen.»
Am selben Abend orientierten dann Fachleute im Gemeindesaal eine interessierte Bevölkerung während zwei Stunden detailliert über die Felssturzsituation und die in den letzten drei Jahren vorgenommenen Vorkehrungen.
Das Sperrgebiet ergibt Sinn
Laut Nils Hählen, dem Leiter der kantonalen Abteilung für Naturgefahren, wurden sowohl beim Spitzen Stein als auch an der Ost- und Westflanke deutlich tiefere Rutschgeschwindigkeiten gemessen als in den beiden Vorjahren. «Das hängt mit dem durch Schneeschmelze und Niederschlag erzeugten Wassergehalt zusammen. Dieser war 2022 dank des warmen und trockenen Klimas sehr gering», so Hählen. Der Felssturz vom 23. August habe zwar spektakulär ausgesehen, sei aber mit rund 5000 Kubik ein kleines Ereignis gewesen. Dieses Material sei «reif» gewesen, und solche Abbrüche habe es im aktuellen Jahr mehrere gegeben. Genau aus diesem Grund bestehe das dauerhafte Sperrgebiet.
Im Gebiet herrsche ein sehr labiles Gleichgewicht. «Ein einzelnes Jahr mit geringeren Bewegungen stellt die bisherigen Annahmen nicht infrage. Und wenn sich der Permafrost weiter erwärmt, erzeugt das zusätzlich Wasser. Das hat zur Folge, dass die Gefährdung in den kommenden Jahren zunehmen kann.» Insgesamt seien im Gebiet 18,3 Millionen Kubik in Bewegung. Somit sei über eine längere Zeit von einer angespannten Lage auszugehen. Anhand einer Grafik zeigte Hählen auf, dass in den vergangenen 3200 Jahren im Gebiet Spitzer Stein zehn Grossereignisse verzeichnet worden sind – also im Mittel alle 300 Jahre ein Grossereignis. «Kleinere Abbrüche sind viel wahrscheinlicher – aber Überraschungen sind immer möglich.»
Solange nichts «Grosses» kommt ...
Die Geologin Gabi Hunziker hielt fest, dass das Jahr 2022 keine wesentliche Veränderung der Gefahrensituation gebracht habe. Mit den seit 2020 realisierten Massnahmen sei der Schutzgrad stetig erhöht worden, die Gefährdungskarte bleibe aber unverändert. «Die permanenten Massnahmen wie Dämme, Netz und Mauern zeigen eine deutliche Reduktion der betroffenen Fläche. Der Entlastungskorridor beeinflusst grosse Ereignisse zwar nur unwesentlich, zeigt aber bei kleineren, häufiger auftretenden Ereignissen eine grosse Wirkung.» Die realisierten mobilen und organisatorischen Massnahmen würden bei den eher wahrscheinlichen kleineren Ereignissen das Schadenrisiko reduzieren. Über den Korridor soll allfällig aus dem Geschiebesammler abfliessendes Wasser in die Kander geleitet werden, um ein Überfluten des Dorfes zu verhindern. Zum Vergleich ging Hunziker mit Bildern auf den Murgang Glyssibach von 2005 in Brienz ein, der damals zwei Todesopfer gefordert und enorme Schäden verursacht hatte. Auch Filmsequenzen der Murgänge von Chamosson und Fully im Wallis veranschaulichten die Wucht solcher Ereignisse. «In Kandersteg wollen wir 2023 die Situation mit der Erhöhung des Damms Oeschiwald auf sechs Meter weiter verbessern», erklärte die Geologin. «Zudem werden die Szenarien im kommenden Jahr erneut überprüft.»
Kandersteg gilt als «Härtefall»
Der Spiezer Umweltingenieur und Projektleiter Beat Brunner (Emch + Berger) zeigte unter anderem Bilder des auf fünf Meter erhöhten Zilfuridamms. In den letzten Wochen wurde dessen Aussenseite rekultiviert und mit Kleinstrukturen bestückt. «Im Frühling wird eine Bepflanzung mit einheimischen Sträuchern und langsam wachsenden Bäumen erfolgen.» Kleintiere wie Reptilien, aber auch Orchideen seien vor den Bauarbeiten umgesiedelt worden, erklärte Brunner auf eine entsprechende Frage aus der Versammlung.
Nachdem er die mobilen und die festen Massnahmen des Entlastungskorridors erklärt hatte, ging der Referent auf die Kosten ein. «Seit 2020 sind für die Arbeiten inklusive Planung und Mehrwertsteuern 7,2 Millionen Franken aufgewendet worden. Dazu kommen für die Gefahrenbeurteilung weitere rund 510 000 Franken.» Dank eines Härtefallgesuchs übernehme der Kanton Bern 58 Prozent, der Bund steuere 35 Prozent bei. «Für die Schwellenkorporation Kandersteg machen die restlichen 7 Prozent nach heutigem Stand rund 540 000 Franken aus.» Ziel sei es, mit dem 2023 noch zu erwartenden Aufwand unter der Grenze von insgesamt 10 Millionen Franken zu bleiben.
Sonderwünsche kosten extra
Verena Kohler von der örtlichen Schwellenkorporation ging auf die realisierten baulichen Notmassnahmen ein. «Die vielen Kleinbaustellen der betroffenen Grundeigentümer waren nur mit entsprechenden Absprachen, mit Zusammenarbeit und Koordination zu bewältigen», erklärte sie. Der Wasserbauplan werde im Frühling 2023 zur Bewilligung abgegeben. «Die Dienstbarkeitsverträge und -pläne sind weitgehend erstellt. Die Abgabe und Unterzeichnung erfolgt in den kommenden Monaten.» Bund und Kanton würden die jeweils günstigste Bestvariante subventionieren. Mehrkosten für Zusatzwünsche müssten die Eigentümer selbst bezahlen.
Bei der Überwachung der Kandersohle seien keine definitiven Auflandungen festgestellt worden, fügte Kohler noch an. Die Messungen würden aber wegen der saisonalen Schwankungen weitergeführt.
Teilweise ist Geduld gefragt
Gemeinderätin Franziska Ryter bat die Anwesenden, sich bezüglich der Gefährdungskarte bereits vor der Planung allfälliger Bauprojekte über die Realisierungsmöglichkeiten zu erkundigen. Zudem brauche es Geduld: «Beim Erlass der Planungsphase eingegangene Einsprachen haben wir ans Amt für Gemeinden und Raumordnung weitergeleitet. Von dort haben wir seit einem halben Jahr keine Rückmeldung erhalten.» Auch bei Einsprachen zur Erhöhung des amtlichen Wertes sei derzeit kein rascher Entscheid zu erwarten. «Ich weiss, dass das zu Problemen bei Handänderungen führen kann», betonte Ryter. Vereinzelte Besucher nutzten denn abschliessend auch die Gelegenheit, das Gespräch mit den Fachleuten zu suchen.