Das Museum als Plattform für den Austausch

  13.06.2023 Kandergrund, Blausee, Mitholz

Seit einem halben Jahr läuft im Alpinen Museum der Schweiz die Ausstellung «Heimat. Auf Spurensuche in Mitholz». Die Kuratorin Barbara Keller erzählt von der Solidarität und der Betroffenheit, welche die Präsentation bei den BesucherInnen auslöst.

HANS RUDOLF SCHNEIDER
Seine Heimat verlassen zu müssen, für immer oder temporär, ist heute so aktuell wie selten. Seien es die ukrainischen Flüchtlinge, die Schutz suchen vor den Russen, seien es die Bewohner des bündnerischen Brienz, die wegen akuter Felssturzgefahr evakuiert wurden, oder seien es die Mitholzerinnen und Mitholzer, die wegen der Räumung des alten Munitionslagers eine neue Heimat suchen müssen. Am Beispiel des Kandertaler Dorfes hat das Alpine Museum in Bern dieses Thema aufgegriffen und zusammen mit den EinwohnerInnen eine eindrückliche Ausstellung auf die Beine gestellt.

Parallelen entdeckt
Eine Bilanz der ersten Ausstellungsmonate durch die stellvertretende Museumsdirektorin Barbara Keller zeigt Erfreuliches: «Wir haben Besucher, die bisher unser Museum kaum gekannt haben. Gerade aus dem Berner Oberland verzeichnen wir neue Gäste, aber auch aus dem Umkreis der Stadt.» In den Gesprächen während Führungen oder bei Anlässen werde häufig die Verbindung zu Brienz GR hergestellt, aber auch zu anderen Altlasten wie dem Atommüll und den Bestrebungen der Nagra, eine langfristig vertretbare Lagerung zu finden, sagt Keller (Nagra = Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle). Gerade im Kanton Zürich seien die betroffenen Gemeinden und deren Milizbehörden mit grossen Herausforderungen konfrontiert. Die Ausstellung in Bern war unter anderem der Anstoss zu einem Erfahrungsaustausch zwischen dem Kandergrunder Gemeindepräsidenten Roman Lanz und seinen Zürcher Kollegen gewesen.

Ganz persönliche Botschaften
Im letzten Teil des Rundgangs im Alpinen Museum – Echo-Raum genannt – haben die BesucherInnen die Möglichkeit, ihre Gedanken und die persönliche Befindlichkeit auch für andere festzuhalten. Die konkrete Frage dort lautet: «Was geht mich das an?» Die digital festgehaltenen Botschaften werden in diesem letzten Raum an die Wand projiziert (siehe Kasten). Etliche würden in aufgewühlten Nachrichten Dampf ablassen und kritische Fragen stellen, fasst Keller zusammen – zum Beispiel nach der Munition im Thunersee oder nach weiteren gefährlichen Altlasten in der Schweiz. Zahlreiche Aussagen seien aber erfreulich aufmunternd und würden mitfühlend Anteil nehmen am Schicksal von Mitholz.

Sandra Dalto, zuständig für die Kommunikation des Museums, ergänzt, dass sich viele junge Leute hier bewusst würden, wie sehr unser heutiges Handeln Auswirkungen auf künftige Generationen haben werde. Die persönliche Betroffenheit werde plötzlich deutlich. Das Ziel der Ausstellungsmacher, zum Nachdenken anzuregen, wird somit erreicht.

Eine andere Seite kennenlernen
Zu den Besuchern gehören neben Einzelpersonen auch Gruppen, zum Beispiel kantonale Politiker quer durch alle politischen Lager. Auch Fachleute, die in einzelnen Bereichen des Räumungsprojektes tätig sind, kommen nach Bern und lernen dort neben den rein technischen auch die menschlichen Aspekte hinter der Mitholz-Tragödie kennen. «Gerade diese Gäste sind oftmals stark berührt oder betroffen, wenn sie die ganze Geschichte erfahren», meint Ausstellungsmacherin Barbara Keller. Sie erzählt von Kontakten beispielsweise mit dem Mieterverband: Auch rund um die Städte sei das Thema Weg- respektive Umzug aktuell, etwa wegen umfangreicher Gebäudesanierungen. In solchen Fällen würden dann fest verwurzelte Quartierbewohner vor dem Verlust ihrer gewohnten Umgebung stehen.

Aktualität wird berücksichtigt
Eher aussergewöhnlich ist, dass die Mitholz-Ausstellung einem Thema gewidmet ist, das sich noch laufend verändert. «Wir ergänzen auf dem Zeitstrahl jeweils neue Meilensteine des Räumungsprojektes. Das hat aber platzmässig seine Grenzen», sagt Barbara Keller. «Deshalb werden wir mit begleitenden Veranstaltungen aktuelle Aspekte aufnehmen.» Geplant ist zum Beispiel ein Gesprächsanlass mit Vertretern des VBS und der Mitholz-Projektleitung im kommenden Herbst.

Unmittelbare Konfrontation
Für die angebotenen Spezialführungen durch MitholzerInnen hätte sich das Museum mehr Publikum gewünscht, weil sie für die TeilnehmerInnen sehr informativ und bewegend waren. Gerade diese ReferentInnen hätten ja die direkte Betroffenheit unmittelbar vermitteln können, spürbar auch durch die tatkräftige Mitarbeit an der Ausstellung selbst und die gezeigten persönlichen Gegenstände. Weitere solche Führungen sollen folgen und dann gezielter kommuniziert werden, wie Sandra Dalto sagt.

Die Ausstellung im Alpinen Museum in Bern ist offen bis am 30. Juni 2024. Weitere Infos unter www.alpinesmuseum.ch


Ausgewählte Botschaften von BesucherInnen auf die Frage: «Was geht mich das an?»

«Wie standen die Mitholzer damals dem Bau des Munitionslagers gegenüber? Widerstand? Kollaboration? Gleichgültig?» Marie, 74 «

Bisher bin ich jeweils nur durchgefahren – jetzt hat Mitholz ein Gesicht für mich.» Francine, 67 «

Heimat erkennt man oft erst, wenn man sie verliert oder zu verlieren droht.» Gabriela, 38 «

Das erinnert mich daran, dass die Illusionen von heute die Katastrophen von morgen sind. Auch bei chemischem oder radioaktivem Müll.» Martin, 68

«Neues wird entstehen. Was bleibt, sind die Erinnerungen. Die kann man nicht räumen.» Tom, 49

«Ich hab mir nie die Frage gestellt, was ‹Zuhausesein› für mich bedeutet. Diese Geschichten hier tun das aber.» Estelle, 18 «

« Welche Zukunft wir wollen, muss diskutiert werden.»Karin, 53 

« Und wo liegt das nächste Mitholz?» Res, 77

Treffen wir auch heute Entscheide, die bald explodieren?» Jürg, 62 «

Ich trage die Konsequenzen für die Handlungen der letzten Generationen.» Nico, 29 «

Auch mein Zuhause könnte einmal betroffen sein. Ich möchte auch nicht weg.» Barbara, 48


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