Das tragische Leben des Amtsschreibers Abraham Zahler
14.11.2025 FrutigenIm Archiv der Kulturgutstiftung Frutigen liegt ein langer Brief an den Regierungsrat von alt Amtsschreiber Abraham Zahler aus dem Jahr 1833. Darin beschwert sich dieser, ungerechtfertigt bevogtet – also entmündigt – worden zu sein. Zudem würden seine Verwandten ...
Im Archiv der Kulturgutstiftung Frutigen liegt ein langer Brief an den Regierungsrat von alt Amtsschreiber Abraham Zahler aus dem Jahr 1833. Darin beschwert sich dieser, ungerechtfertigt bevogtet – also entmündigt – worden zu sein. Zudem würden seine Verwandten versuchen, seine Heirat mit seiner jungen, schwangeren Braut zu verhindern.
HANS EGLI
Das Leid, das in diesem Brief zum Ausdruck kommt, bewog mich, in alten Schriften mehr über Abraham Zahler zu suchen. Dabei zeigte sich, dass sein Schicksal noch viel schwerer war, als der Brief zunächst vermuten liess.
Vor dem Dorfbrand von 1827 wohnte Abraham Zahler an der Leischen. Sein Haus stand an der Stelle, wo sich heute die Kapelle der EMK befindet. Dort war er aufgewachsen. Das Haus gehörte seinem Vater, dem Amtsweibel Johannes Zahler, der 1802 starb. Im Laufe der Jahre übernahm Abraham Zahler von seinen Miterben alle Anteile am Haus.
Er war Notar und arbeitete beim Gericht, einige Jahre auch als Gerichtspräsident. 1803 wurde er Amtsschreiber, trat aber 1817 zurück. Es lässt sich vermuten, dass er entlassen wurde. Anschliessend arbeitete Zahler als Notar und betrieb nebenbei – wie damals üblich – Landwirtschaft. Für damalige Verhältnisse war er recht wohlhabend: Ihm gehörten mehrere Grundstücke im Wert von weit über 10 000 Franken.
Unglückliche Ehejahre
Abraham Zahlers privates Leben war von schweren Schicksalsschlägen geprägt. 1797 vermählte er sich mit der jungen Maria Bircher (geboren 1779) aus Adelboden. Die Ehe stand unter keinem guten Stern. Abraham und Maria trennten sich 1815.
Der überlieferte Scheidbrief gibt ein trauriges Bild der Ehe: Von vielen verlorenen Kindern ist die Rede, von Krankheit, Streit und Misshandlung. Maria Zahler begründete ihren Scheidungsantrag damit, dass «sie in 17-jähriger Ehe acht Kinder erzeugt, aber jetzt alle verloren habe, ihr viel älterer Ehemann auch an Gemütskrankheit leide, sie mit Worten und Werken mishandle». Abraham Zahler seinerseits war mit der Scheidung einverstanden, nicht jedoch mit der Beschuldigung. Der «Hauptgrund zur Scheidung liege nicht in seiner Krankheit, sondern in der Unverträglichkeit seiner Frau, die verzärtelt, mit körperlichen Gebrechen behaftet zur Haushaltung und Kinderzucht ganz unfähig sey».
Verlust und Krankheit
1816 heiratete der mittlerweile 51-jährige Abraham Zahler erneut – die 25-jährige Margaritha Wäfler von Aeschi. Erst 1824 wurde ihr erstes Kind geboren. Es starb unmittelbar nach der Geburt. Auch die Mutter überlebte nicht; sie starb zwei Wochen später. Abraham Zahler war wieder allein: neun Kinder verloren, von der ersten Frau geschieden, die zweite gestorben. Doch es kam noch schlimmer. Zwei Monate nach dem Tod seiner Frau, im September 1824, wurde er wegen «Gemütskrankheit» – also einer schweren Depression – entmündigt. Seine alte Krankheit hatte ihn wieder befallen; kein Wunder nach so vielen Schicksalsschlägen. Zahler bekam einen Vormund. Als Notar durfte er nicht mehr arbeiten und auch seinen kleinen Bauernbetrieb konnte er nicht mehr führen. Seine Tiere wurden verkauft. Anfangs konnte er noch selbst für sich sorgen, manchmal unterstützt von seinen Schwestern.
Der Dorfbrand und der Rückzug
1827 traf ihn – wie viele andere – ein neues Unglück: der Dorfbrand. Sein Haus an der Leischen verbrannte. Abraham Zahler liess es nicht wieder aufbauen; seine gesundheitliche Verfassung hätte dies kaum erlaubt. Er zog nach Kanderbrück zu seiner Schwester Susanna Bütschi-Zahler.
Im Herbst 1828 bekam er einen neuen Vormund: den Schullehrer Johannes Grossen, der mit einer Nichte Zahlers verheiratet war. Von ihm wissen wir, dass Zahler bis etwa 1832 sehr leutescheu und verschlossen war. Er verliess kaum sein Zimmer; Zugang zu ihm fand nur seine Schwester und Kostgeberin Susanna Bütschi.
Dann jedoch «auf einem Male verliess er sein Zimmer und stürmte Tag und Nacht herum, begienge eine närrische Handlung nach der anderen, … und ist allbereits in einen Paternitäts-Handel verflochten». Mit den «närrischen Handlungen» meinte Johannes Grossen wohl vor allem die neue Liebschaft seines Mündels – die zur nächsten Tragik in dessen Leben wurde.
Eine späte Liebe
Abraham Zahler begann ein Verhältnis mit der jungen Susanna Wäfler (geboren 1811), offenbar mit Zustimmung ihrer Eltern. Eine Zeitlang wohnte Zahler mehr oder weniger bei der Familie Wäfler in Kanderbrück.
Im Winter 1833 versprach der damals 68-jährige Abraham Zahler seiner viel jüngeren, 22-jährigen Geliebten die Ehe und im Frühjahr desselben Jahres wurde sie schwanger. Daraufhin zeigten die beiden dem Pfarrer Gyger ihre Verlobung an. Bevor ein Brautpaar heiraten durfte, musste der Pfarrer die geplante Heirat an drei Sonntagen von der Kanzel verkünden. Der erste Ausruf erfolgte am 14. Juli.
Daraufhin gab es eine Einsprache gegen die Ehe durch die Verwandten. Dabei war der Vormund und angeheiratete Neffe Johannes Grossen federführend. Begründet wurde diese Einsprache mit folgender Argumetnation: dass «Zahler blödsinnig seye und sich durch Wort und That ungebührlich aufgeführt habe gegen den Vögten und sonst». Abraham Zahler sah den wahren Grund jedoch darin, dass man «wie begreiflich lieber an ihme Vögtling Zahler erben und ihne zu dem End nach seinem Gutdünken in sichern Fesseln behalten und nicht heyrathen lassen möchte».
Verhöre und Demütigung
Der zweite und dritte Ausruf der geplanten Hochzeit fanden nicht mehr statt. Stattdessen wurde das Chorgericht aktiv. Dieses kirchliche Gericht befasste sich mit sittenwidrigem Verhalten und insbesondere mit unehelichen Schwangerschaften.Bemerkenswert ist, dass auch Zahlers Vormund Johannes Grossen im Chorgericht sass. Im Protokoll vom 28. Juli 1833 steht: «Dem Christian Wäfler von Kanderbrügg wird wegen Zuzugs des Alt-Amtschr. Zahler bey seiner Tochter eine schriftliche Warnung zugesandt.» Am 19. September wurde Susanna Wäfler vorgeladen. Es muss für eine junge Frau schrecklich gewesen sein, im Chor der Kirche zu stehen und von einer Schar älterer Männer über ihre Schwangerschaft ausgefragt zu werden. Abraham Zahler wollte sie begleiten, wurde aber nicht zugelassen; er musste vor der Kirche warten.
Im Protokoll des Chorgerichts steht nur, Susanna Wäfler habe angegeben, «seit Ende März von dem verwittweten Alt-Amtschreiber Abraham Zahler, der ihr die Ehe versprochen habe und zu verschiedenen Malen vor und nach dem angegebenen Zeitpunkt zu ihr gekommen sey, schwanger zu seyn.
Zahler habe gesucht, sie zu schwängern, damit man ihn nicht hindern könne, sie zu heiraten.» Während der Einvernahme dürfte der Ton rauer gewesen sein. Laut Abraham Zahler hat Susanna Wäfler erzählt, man habe sie «eine Hure gescholten und ihr mit der Gefangenschaft gedroht». Zudem habe man ihr gesagt, dass sie Abraham Zahler vermutlich nicht heiraten dürfe, sondern ihr Kind unehelich bekommen müsse. Später musste auch Zahler vorsprechen. Er bestätigte die Aussagen seiner Braut und anerkannte das Kind als seines. Im Protokoll des Chorgerichtes vom 31. Oktober 1833 heisst es: «Über das Beysammenleben dieser beyden Verlobten im Haus des Christian Wäfler zu Kanderbrügg ward erkennt: Das fernere Zusammenwohnen ernstlich zu verhindern und den Vater Wäfler dafür verantwortlich zu machen.»
Die letzte Suche nach Gerechtigkeit
Am 27. September im Jahr 1833 schrieb Abraham Zahler den erwähnten Beschwerdebrief an den Regierungsrat. Er beklagte sich darin, dass er «hinterrüks, unformlich und widerrechtlich bevogtet» worden sei, obwohl er mit seiner verstorbenen Frau «acht Jahr lang in einer sehr friedlichen Ehe gelebt, sich häuslich und arbeitsam aufgeführt und seine Sachen in gutem Stand gehabt» habe. Zudem, so ist dem Schreiben zu entnehmen, hätten die Vormünder sein Vermögen schlecht verwaltet, Grundstücke zu billig verkauft, ihm kaum Geld und fast keine Kleider gegeben. Zahler versuchte damit zu erreichen, dass seine Vormundschaft aufgehoben würde, damit er heiraten und wieder als Notar tätig sein könnte.
Es half ihm nichts. Gemäss Protokoll des Regierungsrates wurde das Schreiben «zur Kenntnis genommen» und an die Justizdirektion weitergeleitet. Diese gab es an den Regierungsstatthalter mit dem Auftrag, bei der Vormundschaftsbehörde einen Bericht zu verlangen. Später bekam der Gemeinderat den Brief zur Stellungnahme; er reichte ihn an Pfarrer Gyger weiter. Da sich keine weiteren Akten über Zahlers Beschwerde finden, ist anzunehmen, dass sie verschleppt wurde. Eine Heirat kam nie zustande.
Das Ende
Am 3. Februar 1834 gebar Susanna Wäfler ihren Sohn Samuel. Im Taufrodel Frutigen ist die Geburt als unehelich vermerkt, und – anders als üblich – ist Abraham Zahlers Vaterschaft nicht eingetragen.
Dennoch musste er gemäss Entscheid des Amtsgerichtes halbjährlich einen Unterhaltsbeitrag von 16 Franken bezahlen, bis zu Samuels siebzehntem Geburtstag.
Abraham Zahler starb im Jahr 1837. Sein Erbe fiel an seine Geschwister sowie an deren Nachkommen. Susanna Wäfler erhielt lediglich die hochgerechneten Unterhaltsbeiträge für Samuel im Betrag von 324 Franken.


