«Den Everest zu besteigen, ist ein Luxusproblem»
27.09.2024 AdelbodenDer 46-jährige Adelbodner Simon Sarbach ist Extrembergsteiger. Er hat den höchsten Gipfel der Welt erklommen. Dabei wurde sein Team von einem SRF-Kameramann begleitet. Die «DOK»-Serie erscheint ab heute im TV.
...Der 46-jährige Adelbodner Simon Sarbach ist Extrembergsteiger. Er hat den höchsten Gipfel der Welt erklommen. Dabei wurde sein Team von einem SRF-Kameramann begleitet. Die «DOK»-Serie erscheint ab heute im TV.
«Frutigländer»: Warum wollten Sie auf den Mount Everest?
Mein Wunsch war eigentlich der K2. Er ist der schwierigste unter den Achttausendern und sehr gefährlich. Statistisch gesehen stirbt dort jeder vierte Bergsteiger. Vor zwei Jahren hatte ich bereits einen Achttausender – ohne Sauerstoff – bewältigt. Das ging so gut, dass ich es noch einmal wissen wollte. Ich suche und brauche die Herausforderung. Die Besteigung eines Achttausenders ist jedoch kein Kindergeburtstag. Ich dachte an meine Frau, meine zwei Töchter im Alter von acht und zehn Jahren sowie an mein Geschäft. Also entschied ich mich für den Everest – mit 8849 Metern der höchste aller Berge.
Sie standen vor Ort vor der Entscheidung, die Expedition abzubrechen.
Ich hatte mich für die objektiv sicherste Route von Norden her, von Tibet, angemeldet. Dort sind weniger Bergsteiger unterwegs. Die Voraussetzung ist hier, bereits einen Achttausender bestiegen zu haben. Die Genehmigungen sind begrenzt. Wir erhielten unsere aber nicht rechtzeitig, weil China mit den Visa massive Verzögerungen hatte. Also blieb uns die Wahl zwischen «nach Hause fahren» oder «Wechsel auf die Südseite». Zusammen mit dem Expeditionsleiter und einem Teilnehmer aus dem Luzernischen wich ich auf die gefährlichere Südroute in Nepal aus, wo viel mehr Berggänger unterwegs sind. Im Nachhinein war es für uns die beste Entscheidung.
Stimmt es, dass es am Everest Staus gibt und viele Berggänger unterwegs sind, die nicht über ausreichend Erfahrung verfügen?
Ja, die Kritik ist gerechtfertigt. Wir beobachteten, wie sich nachts am Berg Stirnlampe an Stirnlampe reihte. Diese «Ameisenstrassen» hielten wir filmisch fest. Im Basislager auf 5300 Metern befanden sich rund 1500 Leute, davon 400 Bergsteiger. Von Letzteren schafften es mindestens 100 aus Angst oder technischer und körperlicher Überforderung nicht über den Khumbu-Eisbruch ins Lager 1. Während einige alles Gepäck selbst tragen, behelfen sich andere mit drei Sherpas und einem Bergführer – egal, was es kostet. Ich sah Menschen, die weder die Steigeisen noch das Gstälti anziehen konnten – darunter Influencer, die ständig filmten oder sich ablichten liessen. Trotzdem nehmen dich unter diesen Bedingungen acht von zehn Anbietern mit. Aus Bergsteigersicht ist es ein Wahnsinn. Doch jeder Gast bringt dem Land Geld und Arbeit. Man bedenke, wie viele Träger in Nepal ihre Familien ernähren. Ich war ja selbst Teil dieser «Maschinerie», ein weiterer Tourist, der zur Verschmutzung beigetragen hat.
Wie erlebten Sie den Aufstieg?
Das Gefährlichste zu Beginn war der Khumbu-Eisfall. Er ist berüchtigt für seine tiefen Spalten und die unberechenbaren Abbrüche. Dort passieren die meisten Unglücke. Als ich während der Akklimatisierung zum ersten Mal davorstand, dachte ich: «Das ist ein Irrsinn. Ich bin im falschen Film.» Mir blieb nur das Prinzip «Augen zu und durch». Vom Basecamp bis zum Gipfel und zurück brauchst du fünf bis sechs Tage. Für diesen Zeitraum zeichnete sich ein Schönwetterfenster ab. Erst am zweitletzten Tag sind wir ab Lager 2 aufgestiegen – im Wissen um das Risiko der Wetterverschlechterung. So liessen wir die seit Langem wartende Masse losziehen und mussten nirgends «anstehen». Nachts kletterten wir zum Lager 3 auf 7100 Metern und tagsüber zum Lager 4 auf 8000 Metern. Dort schliefen wir zwei bis drei Stunden. Um 22 Uhr brachen wir zum Gipfel auf. Das war zwingend, weil sonst die Zeit für die Rückkehr nicht gereicht hätte. Diese letzte Etappe ist extrem steil und heikel. Wenn du ein Problem hast – etwa mit Sauerstoff, verlorenen Ausrüstungsgegenständen oder Unkonzentriertheit –, kann das schnell zum Tod führen. Um sieben in der Früh standen wir nach zehn Stunden Aufstieg oben.
Was war das für ein Gefühl?
Es ist so kalt, und du bist dermassen müde. Du stehst am höchsten Punkt der Welt. Aber das ist erst die Hälfte. Du machst ein Gipfelfoto, gratulierst den anderen und kehrst um. Du musst den Kopf ganz bei der Sache behalten. Allen ist bewusst: Die meisten Unfälle passieren beim Abstieg. In dieser Saison gab es am Everest schon neun Tote. Beim Aufstieg mussten wir 50 Meter vor dem Ziel über eine Leiche klettern. Ein zweiter Mann hing tot im Seil. Letzterer war am Vorabend abgestürzt.
Warum holt niemand diese Menschen herunter?
Auf 8500 Metern einen Verstorbenen zu bergen, ist ein riesiger Kraftakt. Du bist selbst am Limit und könntest sterben, wenn du eine Person mitschleppst.
Sie schafften direkt nach dem Everest noch den benachbarten Lhotse. Wie hielten Sie diese Strapazen aus – ohne Schlaf, und das innert 22 Stunden?
Es war mein grösster Wunsch, diese Achttausender zu bezwingen. Da war Müdigkeit eine Nebensache, die ich ausblenden musste. Ich war so fokussiert darauf, welches mein nächster sicherer Griff sein würde und was mein Seilschafts-Partner macht. Auch Hunger muss man wegstecken können, man verspürt keinen. Ab 7000 Meter habe ich kaum mehr gegessen. Als wir nach dem Erklimmen des Everest am Mittag ins Lager 4 zurückkehrten, kochten wir uns einen Tee und assen einige Bissen. Um 21 Uhr kletterten wir nochmals eine ganze Nacht zum Lhotse auf 8516 Metern hinauf. Es war sehr hart. Das Überwinden dieser abnormalen Anstrengung ist nur noch eine mentale Frage. Du musst einfach funktionieren. Ich wusste: Das erlebe ich nicht so schnell wieder. Um 4.30 Uhr standen wir auf dem Gipfel. Am müdesten fühlte ich mich, als wir nach dem Lhotse direkt ins Basecamp abstiegen. Das dauerte erneut 12 Stunden, nachdem wir mit so wenig Schlaf 36 Stunden hinaufgeklettert waren.
Sie wurden fürs Fernsehen gefilmt.
Ein Kameramann begleitete uns bis ins Basecamp. Während der Akklimatisation porträtierte er uns vor oder nach einer Tour sowie bei der Begehung in ungefährlichen Situationen.
Und wer filmte Sie beim eigentlichen Aufstieg?
Ab dem Basislager bis auf den Everest und Lhotse machten ich und mein Seilschafts-Partner Aufnahmen mit dem Handy und der GoPro-Kamera. Wir hatten Solarmodule und Powerbanks dabei. Das Smartphone trugen wir wegen der Kälte in der Brusttasche. Wir knipsten wenige Fotos und interviewten uns gegenseitig im Zelt. Denn im Aufstieg bei –25 Grad und Wind ziehst Du die Handschuhe nicht gerne aus. Auf dem Gipfel drehte ich ein Mini-Video zur Erinnerung.
Glücklicherweise ist alles gut gelaufen. Im Falle eines Unglücks – hätten Sie die Kamera gezückt?
Man rechnet damit, dass man heil zurückkehrt. Das machen und hoffen alle. Man muss aber das Ableben vorher geregelt haben, dafür gibt man dem Expeditionsleiter ein Formular ab. Wäre ein Unfall passiert, hätten wir die Situation sicher nicht gefilmt.
Möchten Sie noch einmal auf den Everest?
Nein, ich war dort und durfte unversehrt heimkehren. Ich fordere mein Glück nicht unnötig heraus. Zudem bedeutet es sieben Wochen Entbehrung. Der Mensch ist nicht gemacht für diese Höhe und gehört dort eigentlich nicht hin. Einen Achttausender zu besteigen, besonders den Everest, ist ein Luxusproblem. Ich wollte das erleben. Es ist einmalig und ein Privileg, dass ich auf dem Dach der Welt stand. Aber um im Leben zufrieden zu sein, brauchst man nicht auf den Everest.
Schweben Ihnen andere hohe Berge vor?
Ja, alle 48 Viertausender in der Schweiz. 33 davon habe ich bereits erklommen.
Everest-«DOK»
Ab dem 27. September startet auf SRF 1 die vierteilige «DOK»-Serie «Hoch Hinaus – Wahnsinn am Everest». SRF zeigt aus verschiedenen Blickwinkeln, was sich 2024 am Mount Everest, in Nepal und Tibet abspielt. Grundlage sind die Aufnahmen und Hauptfiguren aus den beiden «DOK»-Filmen «Sherpas, die wahren Helden am Everest» aus dem Jahre 2008 und «Die Bergretter im Himalaya» aus dem Jahre 2012. SRF geht mit ihnen zurück ins Everest-Gebiet und begleitet sie. Es geht um Veränderungen durch den Klimawandel und den Massentourismus. Der Adelbodner Simon Sarbach erscheint im zweiten Teil, am 4. Oktober.
YB