«Der Grosse Rat war richtig still dagegen»

  08.12.2023 Politik

Die Wintersession hat begonnen und der neu gewählte Nationalrat Ernst Wandfluh (SVP) seine erste Sitzungswoche absolviert. Am Dienstag begleitete ihn der «Frutigländer» einen Morgen lang im lebhaften Bundeshaus.

BIANCA HÜSING
Ein Mittwochmorgen im November 2018: Im Berner Rathaus hat die vorletzte Sitzung der Wintersession begonnen. Der frisch gewählte Grossrat Ernst Wandfluh fehlt noch – seine Fahrgemeinschaft steckt im Stau. Ein Dienstagmorgen im Dezember 2023: In einer halben Stunde beginnt im Bundeshaus die zweite Sitzung der Wintersession. Die meisten Parlamentarier fehlen noch – nicht so der frisch gewählte Nationalrat Ernst Wandfluh. «Ich fahre jetzt immer mit dem Zug, weil der Stau um diese Zeit noch schlimmer ist», erklärt er. Die zweckökologische Anreise hat allerdings auch so ihre Tücken. Nach seinem Frühdienst im Stall bleibt dem Landwirt weniger als eine Stunde Zeit, sich in Schale zu werfen und in Frutigen den 6.12-Uhr-Zug zu erwischen. Am Zielort lauert schon die nächste Hürde: «Der Berner Bahnhof ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Als ich heute Morgen am Telefonieren war, habe ich mich direkt verlaufen.»

Eines hat sich in den letzten Jahren offenbar nicht verändert: Wandfluhs Uneitelkeit. Heute wie damals ist er nicht zu stolz, kleine Schwächen zuzugeben.

Zombie-Debatte im Taubenschlag
Im Ratssaal läuft mittlerweile die Debatte zur Landschaftsinitiative – wobei «Debatte» übertrieben ist. Nachdem die Initianten ihren Vorstoss zurückgezogen haben, ist die Abstimmung heute kaum mehr als eine Formalität. Nicolo Paganini (Mitte) spricht von einer Zombie-Initiative: noch nicht ganz tot, aber beileibe nicht lebendig.

Im September haben sämtliche Nationalräte die zweite Revision des Raumplanungsgesetzes angenommen. Das RPG2 gilt als indirekter Gegenvorschlag zur Landschaftsinitiative und scheint ein so guter Kompromiss zu sein, dass selbst die Initianten ihn im Grossen und Ganzen akzeptieren. Gleichwohl sind für heute mehr als 30 Wortmeldungen angekündigt, darunter durchaus auch RPG-kritische. Martina Munz (SP) warnt, die kantonalen Sonderzonen könnten zu einem «Schlupfloch für massive Bautätigkeit ausserhalb der Bauzone» werden.

Der Saal gleicht derweil einem Taubenschlag. Nationalräte kommen und gehen, reden, schütteln Hände. Ernst Wandfluh macht einen Abstecher zu Bundesrat Albert Rösti, begrüsst die StimmzählerInnen und plaudert mit Fraktionskollegen. Ganz gleich, wer gerade am Rednerpult steht: Die wenigsten hören zu. Christine Bulliard-Marbachs «Je vous remerci de votre attention» wirkt vor dieser Kulisse fast ironisch. Was wohl die Schulklasse auf der Gästetribüne von der Sitzung mitnehmen wird?

«Geisch no ga impfe?»
Dass es im Saal eher unruhig zugeht, scheint der Normalfall zu sein. «Ich bin schon gestern ganz ‹verchlüpft›, wie laut es hier ist», sagt Nationalsratsneuling Wandfluh. «Der Grosse Rat war richtig still dagegen.» Während im Saal die Sitzung weiterläuft, wartet er draussen im Flur auf Andreas Wyss. Der ehemalige Geschäftsführer des Berner Bauern Verbands wird ihn in strategischen Belangen beraten und Vorstossideen mit ihm besprechen.

«Geisch no ga impfe?», fragt jemand im Vorbeigehen. Unten gibt’s anscheinend Grippe- und Covid-Impfungen für Parlamentarier. Wandfluh würde gern, muss nun aber seinen Gast abholen. Auf dem Weg trifft er zufällig Jürg Grossen (glp). Mit seiner langjährigen Parlamentserfahrung rechnet dieser ihm kurz vor: «30 Redner à fünf Minuten ... gegen 11.30 Uhr wird wahrscheinlich abgestimmt.» Genug Zeit also für Wandfluhs Termin.

Zugang zu verborgenen Orten
Szenenwechsel. Wyss und Wandfluh haben sich in ein Besprechungszimmer zurückgezogen und klappen ihre Laptops auf. Vom Raum geht eine hohe Wendeltreppe ab. «Die führt in einen der beiden Seitentürme», sagt Wyss. Er kennt sich aus im Bundeshaus: Als persönlicher Mitarbeiter des früheren Nationalratspräsidenten Andreas Aebi hatte er Zugang zu Orten, die selbst den meisten Parlamentariern verborgen sind. Darum geht es im Prinzip auch heute. «Ich bin Lobbyist», gibt Wyss unumwunden zu. Und das sei auch nichts Verwerfliches. Bei 200 Nationalräten halte sich der Einfluss einzelner Lobbyisten in Grenzen. «Ausserdem komme ich nicht mit einer eigenen Agenda zu Ernst. Ich helfe ihm umzusetzen, was er will.»

Wandfluh will über Kraftfutter in Sömmerungsgebieten sprechen. Ein Verband plant mutmasslich, die erlaubte Höchstmenge zu reduzieren. «Soll ich die jetzt schon einladen oder erst ihre Versammlung abwarten?» Wyss rät ihm, direkt auf den Verband zuzugehen.

Mittlerweile ist auch Daria Winkelmann-Rösti im Bundeshaus eingetroffen. Sie war schon in Wandfluhs Wahlkampfteam und spielt in seiner Politkarriere auch weiterhin eine tragende Rolle. Nach den Vorstellungen des Kandergrunders soll sie ihn beim Füttern seiner Social-Media-Kanäle unterstützen. Winkelmann gibt ihm Tipps zu Inhalten und Häufigkeit von Facebook-Posts: «Keine privaten Schlittelerfahrungen teilen, sondern lieber über innovative Projekte und Treffen mit Anspruchsgruppen informieren.»

Als Wandfluh, Winkelmann und Wyss noch aushandeln, wer welche Aufgaben übernimmt, schrillt dreimal die Nationalratsglocke. Abstimmungszeit! Wandfluh eilt hinunter zum Saal und sein Team ist sicher: «Das schafft der nie!»

Wo stehen die Bundesratskandidaten?
Doch Wandfluh schafft es. Im nun deutlich volleren Nationalratssaal wird über das einzige Geschäft des heutigen Tages abgestimmt: 122 ParlamentarierInnen – darunter auch Wandfluh – empfehlen die Landschaftsinitiative zur Ablehnung, 59 zur Annahme. «Damit sind wir am Ende unserer Tagesordnung angekommen», sagt um 10.19 Uhr Nationalratspräsident Eric Nussbaumer und erteilt zugleich einen Rüffel: «Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass etwa 15 Personen auf ihr Rederecht verzichtet haben.» Unter solchen Umständen sei die Zeitplanung natürlich schwierig.

Die Zeitplanung ist auch für Ernst Wandfluh so eine Sache. Theoretisch könnte er jetzt nach Hause fahren und sich um seinen Hof kümmern – wenn die Fraktionssitzung nicht wäre. Erst am Nachmittag kommen die SVP-Nationalräte zusammen und sprechen unter anderem über die bevorstehende Bundesratswahl. Am 13. Dezember bestimmt das Parlament den Nachfolger von Alain Berset (SP). Wandfluh ist unschlüssig: «Gestern haben sich Jon Pult und Beat Jans vorgestellt. Beim einen hat sich das Bild, das ich von ihm hatte, bestätigt. Der andere hat sich anders gegeben und ich frage mich: Hat er wirklich eine Entwicklung durchgemacht – oder sagt er nur, was wir hören wollen?» Natürlich werde er die Empfehlung seiner Fraktion berücksichtigen. An seiner Wahlfeier letzten Freitag hatten ihm erfahrene Parlamentarier wie Albert Rösti und Hansruedi Wandfluh den Tipp gegeben, sich zunächst einmal ein Bild von der Fraktion zu machen und sich vorerst etwas zurückzuhalten. Dass Wandfluh die Fraktionslinie mitberücksichtigt, versteht sich von selbst. Insgesamt will er vor allem glaubwürdig bleiben: «Am Ende muss ich hinter jedem Entscheid stehen können», sagt er.

Politik in den Gängen
Der Kandergrunder sucht noch seine Rolle im parlamentarischen Getriebe. Letztlich ist er einer von 200 und in gewisser Weise austauschbar, wie er selbst weiss. Trotzdem kann er der Politik seinen Stempel aufdrücken, wenn er sich auf seine Kerngebiete Land- und Waldwirtschaft konzentriert. Zunächst aber will das Grundsätzliche geklärt sein – zum Beispiel die sicherheitstechnische Aufrüstung seines Computers oder die Frage, wer eigentlich seine Mails beantwortet.
Während Wandfluh sich wieder seiner Mitarbeiterin zuwendet, herrscht in den Bundeshausgängen Hochbetrieb. Lobbyisten warten darauf, abgeholt zu werden (manchmal sehr lange), Parlamentarier tauschen sich in Kleingruppen aus. Und wieder einmal bestätigt sich: Die eigentliche Politik wird oft nicht im Plenarsaal gemacht. Wer wüsste das besser als Ernst Wandfluh? Schon im Grossen Rat war er während der Sitzungen oft unterwegs. um zu telefonieren oder Interessenvertreter wie Andreas Wyss zu treffen. Kontakte sind wichtig in der Politik.

So viel hat sich also gar nicht geändert – nur sind die Dimensionen jetzt ein wenig grösser.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote