Wenn im Herbst die Wälder des Berner Oberlands widerhallen, sind es die Hirsche, die mit tiefem Röhren ihre Kräfte messen. Doch warum buhlen diese gerade im September und Oktober um die Gunst der Hirschkühe – und nicht etwa im Frühling? Die Antwort liegt ...
Wenn im Herbst die Wälder des Berner Oberlands widerhallen, sind es die Hirsche, die mit tiefem Röhren ihre Kräfte messen. Doch warum buhlen diese gerade im September und Oktober um die Gunst der Hirschkühe – und nicht etwa im Frühling? Die Antwort liegt tief in der Natur verankert und ist ein Meisterstück der Entwicklungsgeschichte.
JACQUELINE RÜESCH
Wer in diesen Wochen frühmorgens oder in der Abenddämmerung durch die Wälder rund um die Lenk, im Justistal oder im Kandertal wandert, hört ein urwüchsiges Schauspiel: das Röhren der Hirsche. Es ist die Zeit der Brunft, jener Phase, in der die Männchen um die Weibchen konkurrieren. Mächtige Geweihe krachen aufeinander, Rivalen messen ihre Kräfte, und das dominante Röhren kündigt den Platzhirsch an.
Doch warum tobt dieses Spektakel im Herbst – und nicht im Frühling, wenn die Natur in voller Blüte steht? Die Antwort liefert die Biologie des Rotwildes. Die Tragzeit der Hirschkühe beträgt rund acht Monate. Wenn sie also im September oder Oktober gedeckt werden, kommen die Kälber Ende Mai oder im Juni zur Welt. Ein perfektes Timing: Dann spriessen Gräser und Kräuter, Büsche treiben Blätter, und die Temperaturen sind mild. Alles, was ein neugeborenes Kalb für einen guten Start ins Leben braucht, ist vorhanden. Würde die Brunft im Frühling stattfinden, wäre das Ergebnis fatal: Die Geburt fiele mitten in den Winter. Schnee, Kälte und Nahrungsknappheit würden den Kälbern kaum Überlebenschancen lassen.
Auch für die Hirsche selbst ist der Herbst ideal. Nach einem Sommer voller Nahrung haben sie Kraftreserven aufgebaut, die sie nun in die energiezehrende Brunft investieren können. Während dieser Wochen fressen die Hirsche kaum, sie verteidigen ihre Familie, kämpfen mit Rivalen und röhren nahezu ununterbrochen. Der Winter hingegen ist für sie die Zeit des Energiesparens – nicht des Kräftemessens. Das präzise Zusammenspiel von Jahreszeiten, Fortpflanzung und Überlebensstrategien zeigt, wie stark das Rotwild mit seiner Umwelt verwoben ist. Alles ist auf die erfolgreiche Aufzucht der Kälber ausgerichtet.
Wer sich also in diesen Tagen im Berner Oberland auf die Pirsch begibt, wird Zeuge eines uralten Rituals, das seit Jahrtausenden den Herzschlag unserer Wälder prägt. Die Brunft ist mehr als ein Naturschauspiel – sie ist ein Lehrstück der Anpassung. Und so gilt: Das Röhren im Herbst ist nicht nur ein Ruf der Wildnis, sondern auch das Versprechen, dass im kommenden Frühling neues Leben in den Wäldern des Berner Oberlands und anderswo erwacht.
Der Jahresrhythmus des Rotwilds
• Herbst (Sept.–Okt.): Brunftzeit – Hirsche kämpfen, Kühe werden gedeckt
• Winter (Nov.–Feb.): Ruhezeit – Energiesparen, wenig Futter
• Frühling (März–Mai): Trächtigkeit – Kühe tragen Kälber
• Frühsommer (Mai–Juni): Geburt der Kälber – optimale Bedingungen
• Sommer (Juli–Aug.): Aufwuchs der Kälber – Stärkung, Säugen, Lernen