Der verschwundene Bär am Heiligen Abend
24.12.2024 GesellschaftWEIHNACHTEN 2024
Willi war mein Freund. Ein stiller Freund. Wo es bei mir sprudelte, war er ein gefrorener See. Er konnte keine Gefühle zeigen – nur seinen Teddybären drückte er stets an sich. Knuddelte ihn. Und flüsterte: «Du bisch de ...
WEIHNACHTEN 2024
Willi war mein Freund. Ein stiller Freund. Wo es bei mir sprudelte, war er ein gefrorener See. Er konnte keine Gefühle zeigen – nur seinen Teddybären drückte er stets an sich. Knuddelte ihn. Und flüsterte: «Du bisch de mys Liebschte…» Wenn ich ihn fragte, wie der Bär heisse, hob er nur die Schultern: «Bäri halt…» Und: Teddybären hätten keine Namen – ob ich spinne?!
Willis Mutter war drei Monate nach seiner Geburt gestorben. Wenn ich das Thema anschnitt, schaute er auf den Boden. Wippte mit den Füssen. Und blieb stumm.
Er lebte bei Alfred, seinem Vater, dem Schuhmacher des Orts. Der war ebenfalls stumm wie ein Fisch. Beim Nachtessen hockten die zwei einander gegenüber. Schlürften ihre Milch. Und das einzige Geräusch, das man im alten Haus vernehmen konnte, war das langsame Daggg … Daggg … Daggg der alten Wanduhr. Auf dem Emaille-Zifferblatt blühte eine Sonnenblume. Auch im Winter.
Immer auf Weihnachten hin schneiderte s Grosi für den Teddybären eine frische Hose. Und ein Sennen-Hemd. Willi fuhr am Weihnachtstag mit dem Autobus nach Frutigen, um sein Geschenk abzuholen. «Weshalb feiert das Grosi nicht mit euch?», fragte ich. «Krach!», sagte Willi nur. Und: «Sie mag meinen Vater nicht … mein Vater war für ihre Tochter nicht gut genug …»
Es war an einem 24. Dezember spät am Nachmittag, als Willi vor unserem Haus stand. Sein Gesicht war weiss wie Kuhmilch: «Der Bär ist weg!»
«Was weg?», sagte ich.
«Ich finde ihn nicht mehr!»
Und dann sah ich bei Willi das erste Mal Gefühle. Er schluchzte hemmungslos. Und jammerte hilflos: «Gestern war er noch bei mir im Bett …»
Ich tröstete ihn: «Der kommt schon wieder hervor. Teddybären verschwinden doch nicht einfach so.» Willi wischte sich die Augen ab: «Vielleicht ist er ausgebüxt … in den Wald … ich habe ihm erzählt, dass die Tiere dort Weihnachten feiern würden ... und dass sie Frieden miteinander hätten … nicht wie die Menschen oder das Grosi und der Äddel ...» Er schaute mich durchdringend an: «Hilfst suchen?»
«Klar doch!», erwiderte ich.
Und wir liefen mit unseren knapp sieben Jahren zum unteren Birg – dorthin, wo der Winter am kältesten und die Dezembertage am dunkelsten sind. Es schneite schon während einer Stunde Fetzen gross wie Chnüüblätz. «Bäär…Bäääri!», rief Willi immer wieder.
Irgendwann waren wir vom Weg abgekommen und wussten nicht mehr weiter. Wir waren müde. Und ich gab die Drama-Queen schon mit sieben Lenzen: «Wir werden erfrieren …!»
Doch dann sahen wir Sterne, die in der Nacht tanzten. Hörten Stimmen. Sie kamen immer näher. Und die Sterne waren in Wahrheit die Taschenlampen derjenigen, die nach uns suchten.
«Jä Hergottsdunneri!», rief Willis Vater, als er uns entdeckte. Dann ging er in die Knie. Drückte den Buben an sich. Und heulte hemmungslos … Hinter dem Vater kam eine alte Frau hervor. Sie nahm Willi ebenfalls in die Arme. Dann klopfte sie dem Vater auf die Schulter: «Na, na … jetzt erhol dich … es ist ja alles gut.»
Willi schaute zur alten Frau: «Grosi … vertragt ihr euch jetzt wieder…?»
«Eh ... ja …», lächelte die alte Frau, «er hat mich angerufen. Dachte, du seist bei mir. Da bin ich sofort gekommen …» Sie hatte rote Augen: «Jetzt gehen wir ins Haus. Und du kommst in ein heisses Bad. Dann trinkst du Salbeitee mit Honig. Morgen komme ich wieder vorbei – ich bringe einen heissen Schinken auf Bohnen mit. Und einen grossen Butterzopf, wie ihn deine Mutter so gerne gehabt hat.» Sie streichelte Willi nochmals durchs Haar: «Und für den Bär bringe ich die neuen Kleidli … Dein Vater hat da übrigens auch eine Überraschung. Aber ich verrate nichts – schliesslich ist Weihnachten.»
Sie gab Willis Vater die Hand: «Bis morgen, Alfred – jetzt bin ich so ein altes Hutzelwybli geworden und hätte nie gedacht, dass ich nochmals eine wunderbare Weihnachten erleben darf.»
Zu Hause sass dann der Bär unter dem Weihnachtsbaum. Er trug eine Ledermütze. Und der Vater stotterte verlegen: «Ich habe ihn dir nur kurz weggenommen … ich wollte nicht, dass immer nur das Grosi ihm etwas schenkt … und da habe ich ihm aus Leder eine Mütze genäht … er ist jetzt in dem Alter, in dem Bären gerne Mützen tragen.»
Willi rannte auf den Vater zu. Dann zu seinem Bäri … abwechselnd hat er beide umarmt.
Ich selbst kam gerade noch rechtzeitig mit den ersten Gästen zu Hause an. Mutter führte wie jedes Jahr Heilig-Abend-Regie und orgelte nochmals die Tischkärtchen um – dann warf sie einen Blick auf mich: «Ja, wie siehst DU denn aus. Wo kommst du her…?»
«Von einem Weihnachtsmärchen», sagte ich, «wir haben einen verschwundenen Bären gesucht.»
Vor drei Jahren habe ich Willi zum letzten Mal gesehen. Er war im Altenheim. Lag in seinem Bett und hat mich nicht mehr erkannt. «Alzheimer», flüsterte die Pflegerin.
Neben Willis kalkweissem Kopf, der ins Leere stierte, lag der Bär mit der Ledermütze. Die Zeit hatte ihm kaum ein Haar gelassen. «Das ist der Bäri…», lächelte ich zu Willi. Und für einen kurzen Moment war es, als wäre Weihnachten in das starre Gesicht zurückgeehrt. Seine Augen leuchteten: «Ja. Das ist der Bäri…»
- MINU