Die gefährliche Sache mit der «Vergleicherei»

  07.11.2023 Kolumne

Es ist ein Jahr vergangen, seit ich mein Diplom zum Automobilingenieur entgegennehmen durfte. Ich treffe mich mit einigen Klassenkameraden aus dem Studium. Wir haben einen guten Austausch. Im Zentrum der Gespräche stehen unsere neuen Arbeitsstellen. Irgendwann landen wir selbstverständlich auch bei der Frage nach dem Gehalt. Das Thema wird heiss diskutiert. Kaum sonst hat man solch eine Gelegenheit herauszufinden, wo man im Vergleich mit Fachleuten aus derselben Branche steht.

Ich würde lügen, wenn ich behauptete, das Gespräch habe mich nicht interessiert. Auf der Rückfahrt machte ich mir jedoch noch einige Gedanken und bemerkte, dass es sich um einen gefährlichen Vergleich handelt. Jemand, der bislang zufrieden war, könnte nun ganz plötzlich unzufrieden sein.

Erst kürzlich habe ich einen Brief vom Bundesamt für Statistik (BFS) erhalten. Genauer gesagt waren es mindestens zwei Briefe und zwei E-Mails, in denen ich aufgefordert wurde, an einer Studie teilzunehmen. Es geht darum, Antworten von Hochschulabsolvent:innen ein Jahr und fünf Jahre nach ihrem Hochschulabschluss auf die folgenden Fragen zu erhalten: «Wie entwickelt sich die Erwerbsquote? Welches sind die entscheidenden Faktoren für einen erfolgreichen Einstieg in die Arbeitswelt?» Die Sache mit dem Salär scheint also allgemein von grosser Bedeutung zu sein. Persönlich bin ich mir nicht sicher, wie gut ich solche Statistiken finde. Sie können nämlich dazu führen, dass sich Jugendliche aufgrund des Gehalts für eine Laufbahn entscheiden. Natürlich wird dies nicht bei allen der Fall sein, aber es dürfte dennoch einige Berufe geben, die genau wegen solcher Studien nicht gewählt werden. Dieses ständige Vergleichen hat sich auch bei anderen Themen in unseren Alltag eingeschlichen und wir bringen es fast nicht mehr weg. Die grösste Antriebskraft dahinter sind Social Media. Andauernd sehen wir, wie unsere Nachbarn wieder irgendwo am Strand sind oder sich ein neues Fahrrad gekauft haben. Das Problem an der Sache ist, dass sich auf diesen Plattformen kaum jemand wirklich authentisch verhält. Jeder zeigt nur seine schönste Seite. Das Resultat: Ganz viele Menschen sind unglücklich, weil sie denken, dem anderen gehe es besser und nur sie hätten auch einmal schlechte Tage.

Das Vergleichsphänomen zieht sich wohl durch die ganze Gesellschaft. Auch ich bin in diesem Punkt herausgefordert. Ich versuche mich deshalb auf Dinge zu konzentrieren, die man sich mit Geld gar nicht erst kaufen kann: Erlebnisse, Familie, Freunde … Ein weiterer Schlüssel ist es, den eigenen Horizont zu erweitern und sich mit Menschen und Kulturen zu beschäftigen, die mit ganz anderen Problemen kämpfen müssen. Denken wir nur an die jüngsten Kriegsereignisse.
Ich bin überzeugt, dass man erst zufrieden sein wird, wenn man mit der ganzen «Vergleicherei» aufhört. Und sowieso: Am Ende des Lebens sind es oftmals verpasste Ereignisse oder Beziehungen, denen man nachtrauert und nicht die 200 Franken, die man monatlich weniger als sein Kollege verdient hat.

BENJAMIN HOCHULI

BENI_HOCHULI@GMX.CH


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