Die gute Stube – der Himmel auf Erden
22.12.2023 GesellschaftFESTTAGSARTIKEL Schon als wir Kinder noch in den ersten Schuljahren waren, nahm unser Vater uns im Winter am Nachmittag jeweils mit in den Wald, oft in den «Grossen Fängleberg». Dort gab es im von meinem Grossvater gesetzten Rottannen-Aufwuchs am meisten zu tun ...
FESTTAGSARTIKEL Schon als wir Kinder noch in den ersten Schuljahren waren, nahm unser Vater uns im Winter am Nachmittag jeweils mit in den Wald, oft in den «Grossen Fängleberg». Dort gab es im von meinem Grossvater gesetzten Rottannen-Aufwuchs am meisten zu tun – und es war auch nicht so gefährlich für uns Kinder. So machte mein Vater nach dem Mittagessen den einachsigen «Waldwagen» parat, mit Stihl-Motorsäge, Metermass, Ausastbeil und Gertel, verschiedenen Ketten, um die Holzträmel auf dem Wagen festzumachen, und Scheidweggen, um die zu fällenden Stämme in die richtige Falllinie zu bringen. Meine Mutter steuerte Lebkuchen bei, mit einem grossen weissen Bären mit leuchtend roter Zunge und grünen Tannen verziert. Und natürlich gab es auch Thermoskannen mit Schwarztee, Milch und Zucker.
War alles parat, kam das Starten des Traktors, eines grünen Bührer-Tractospeed in der eiskalten, bisenexponierten Wagenscheune: dazu war eine Extradosis Äther nötig, die mein Vater direkt in den Lufteinlass sprühte. Und los ging es, wir Kinder dick eingepackt und festgebunden auf dem Sitz über den Kotflügeln des Traktors, über die Felder bis hin zum Wald. Damals konnten wir noch nicht so viel helfen, ausser nach dem Ausasten der gefällten Tannen die Chrisäste auf nahe, bei den Waldwegen gelegene Haufen, zu ziehen.
Mein Vater baute uns eine Hütte aus ebensolchen Chrisästen, er machte ein Feuer, an dem wir dann auch den Tee tranken und den Lebkuchen assen. Diese Nachmittage gehörten einfach in die Adventszeit. Und natürlich hielten wir auch alle schon Ausschau nach einem geeigneten Weihnachtsbaum: Soll es ein junges Tännchen sein? Oder gibt es einen schönen Wipfel einer 20-m-Tanne, die sich in der hohen, holzgetäferten Stube gut machen würde? Soll es eine eher karg wirkende Weisstanne sein – oder doch lieber eine dichtere, aber stärker nadelnde Rottanne? Und natürlich musste es ein Baum sein, der sowieso zu fällen war. Mein Bruder bestand ausserdem darauf, dass die Tanne möglichst gross sein musste, also bis knapp unter die Wohnzimmerdecke reichen sollte, während meine Mutter jeweils nicht so begeistert war von einem solchen «Grageel»…
Meist am Nachmittag des 24. Dezembers gingen wir dann den Baum holen. Er kam beim Eindunkeln in die Stube und wurde nicht zu nahe beim grünen Kachelofen aufgestellt und geschmückt.
Es wurde gesungen, man packte Geschenke aus, es gab Fondue, es war hell und warm. Nach all den trotz Feuer und Arbeit kalten Nachmittagen im Wald, dem frühen Dunkelwerden am Abend, den vielen nebligen Bisentagen, war der Heilige Abend in der warmen, hellen Stube besonders schön. War nicht diese Stube mit dem nun leuchtenden Baum, den Geschenken und Liedern der Inbegriff von Himmel auf Erden?
Unter dem Baum liegend konnte ich Bücher lesen, etwa eine Geschichte aus dem alten England, in der sich enteignete Grundbesitzer in den «grünen Wald» flüchten und dort dem verhassten Lord mit weittragenden englischen Langbogen auflauern – während ich wohlig im Trockenen und Warmen war. Aber auch die Banditen genossen das Aufwärmen ganz ungemein, besonders nach einem missglückten winterlichen Seeabenteuer; vor allem der entlaufene Mönch mit dem sinnigen Namen «Lawless» … und zuletzt kam alles gut, die Bösen wurden bestraft, und der junge tapfere Sir Richard und seine Johanna fanden sich wieder in einer weihnachtlichen Stube.
Der Erfüllung und einem Gelingen geht oft ein «Advent» voraus, eine Zeit des Warten-Müssens, des Ausharrens, der Vorbereitungen und Arbeit. Vielleicht ist diese Erfüllung nicht auf den ersten Blick so klar erkennbar wie ein geschmückter Weihnachtsbaum in der warmen Stube. Vielleicht fehlen den unscheinbaren Bäumchen in unserem Lebenswald noch etwas Licht und Aufmerksamkeit, bis uns ihre Schönheit weihnachtlich entgegenstrahlt, so dass wir einfach wissen, dass das Göttliche unter uns leben will, mit uns leben will, sei es im Wald, in einem Stall oder in der warmen Stube. Denn das ist eigentlich Erfüllung, Weihnachten: Gott will mit uns sein, mitten unter uns.
COLETTE STAUB, PFARRERIN REFORMIERTE KIRCHGEMEINDE FRUTIGEN