Die Info-Seuche
13.12.2024 GesellschaftKOMMUNIKATION Während der Corona-Pandemie ertranken Mediennutzer geradezu in Informationen. Dieser Überfluss führte allerdings nicht zu einer aufgeklärten Gesellschaft, sondern zu allerlei Kollateralschäden, die noch lange nachwirken werden.
...KOMMUNIKATION Während der Corona-Pandemie ertranken Mediennutzer geradezu in Informationen. Dieser Überfluss führte allerdings nicht zu einer aufgeklärten Gesellschaft, sondern zu allerlei Kollateralschäden, die noch lange nachwirken werden.
MARK POLLMEIER
Führt man sich den Verlauf der grossen Seuchen vor Augen, fällt auf, wie viele Parallelen es gab und gibt. Die Unfähigkeit, schnell und beherzt die geeigneten Massnahmen zu ergreifen, das Überreagieren mancher Regierungen, der Flickenteppich von Regeln und Entscheiden, die Verschwörungstheorien, die Suche nach den Schuldigen – all das zieht sich wie ein roter Faden von der Antike bis in die Gegenwart (siehe Artikel links).
Die «Pandemie der Ungeimpften»
Auch während der Corona-Krise wurden allerlei Sündenböcke benannt, sowohl als Ursache der Seuche als auch mit Blick auf deren Ausbreitung. Lange galten etwa Ungeimpfte als Treiber der Pandemie. Zu Beginn der Impfkampagnen hatte diese Aussage auch noch eine gewisse Berechtigung. Spätestens als die ersten Mutationen des Coronavirus auftraten, war jedoch klar: Der Impfschutz hält nicht ewig an, Impfdurchbrüche sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Das wurde von führenden Wissenschaftlern auch so kommuniziert. «Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften, wir haben eine Pandemie», betonte etwa der Berliner Virologe Christian Drosten, der in dieser Zeit international bekannt wurde. Wie viele seiner Kollegen lehnte Drosten leichtfertige Schuldzuweisungen ab.
Doch das Schlagwort von der «Pandemie der Ungeimpften» war in der Welt und liess sich nicht mehr einfangen – obwohl Realität und Wissenschaft bereits das Gegenteil lehrten.
Das Beispiel zeigt, dass die Bewältigung einer Pandemie im Zeitalter der Massenmedien nicht einfacher geworden ist, sondern vielleicht sogar schwieriger. Wenn alle möglichen, auch falschen oder halbwahren Informationen jederzeit verfügbar sind – was ist dann noch wahr? Wenn wissenschaftliche Meinungen sich widersprechen oder scheinbar widersprechen – welcher soll man Glauben schenken? Auf welche Empfehlungen soll die Politik ihre Entscheidungen stützen?
«Fake News verbreiten sich schneller und einfacher als dieses Virus, und sie sind genauso gefährlich», sagte Tedros Ghebreyesus, der Chef der WHO, bereits im Februar 2020. «Wir bekämpfen nicht nur eine Epidemie, wir bekämpfen auch eine Infodemie.»
Er sollte Recht behalten. Bis heute tobt beim Thema Corona ein Streit um die Deutungshoheit. Für die Mehrheit ist die Pandemie zwar längst abgehakt. Doch es gibt auch Menschen, die Aufarbeitung fordern – und Konsequenzen für jene politischen Entscheide, die sie für falsch hielten und halten.
Die Grenzen der Aufarbeitung
Dass weitreichende Vorgänge wie jene aus den Jahren 2020 und 2021 evaluiert werden, ist ein berechtigtes Anliegen, gerade auch mit Blick auf künftige Pandemien. Was lief gut, wo geschahen Fehler, was sollte verbessert werden – solche Fragen müssen geklärt werden. Dass zum Beispiel die sozialen Folgen der Corona-Politik zeitweise viel zu wenig Beachtung fanden, gestehen mittlerweile viele Entscheider ein. Schulen zu schliessen, Altersheime hermetisch abzuriegeln – solche Massnahmen werden in der Rückschau kritisch betrachtet.
Ob es aber eine Aufarbeitung geben kann, die Frieden stiftet, die geeignet ist, alle aufgerissenen Gräben zuzuschütten, ist fraglich. Was sollte die Messlatte dieser Aufarbeitung sein? Die Wahrheit? Es ist ja gerade das Merkmal des heutigen Informationsüberflusses, dass es die Wahrheit scheinbar nicht mehr gibt. Jeder, der sich mit der Pandemie beschäftigt, findet für alle möglichen Theorien Belege und «Beweise» – auch die politischen Entscheider.
Die Labortheorie – endlich bewiesen?
Ein Unterausschuss des US-Repräsentantenhauses hat vor wenigen Tagen festgestellt, das Coronavirus sei «wahrscheinlich durch einen Labor- oder Forschungsunfall aufgekommen». Das von den Republikanern dominierte Gremium stützt seine Erkenntnisse auf 30 Befragungen sowie mehr als eine Million Seiten an Dokumenten. Aber hat der Ausschuss nun die Wahrheit herausgefunden?
Man kann diese «Wahrheit» auch ganz anders beurteilen. Die US-Geheimdienste und andere US-Bundesbehörden geben an, für die Labortheorie keine Beweise gefunden zu haben. Die meisten Wissenschaftler vermuten den Ursprung des Corona-Erregers auf einem Tiermarkt in Wuhan. Sind die Erkenntnisse des US-Repräsentantenhauses vielleicht vor allem ein politisches Manöver? Der repubikanische Präsident Donald Trump hatte während der Pandemie schliesslich keine allzu gute Figur abgegeben und allerlei Merkwürdiges von sich gegeben. Wie bei vielen Fragen rund um Corona ist es am Ende eher eine Glaubensfrage, zu welcher Seite man tendiert – und daran würde vermutlich keine Aufarbeitung und kein Untersuchungsausschuss etwas ändern.
Eine Bürde für die Zukunft
Experten sind sich einig: Irgendwo steht ein Erreger in den Startlöchern, die Welt zu erobern. Kandidaten gibt es genug. Seit Monaten grassiert etwa die Vogelgrippe in Kuhherden in den USA. In mindestens einem Fall besteht der Verdacht, dass sich ein Mensch beim Kontakt mit den Tieren infiziert hat. Die Sorge wächst, dass das Vogelvirus H5N1 mutieren könnte. Das Überspringen vom Tier auf den Menschen wäre dann kein Problem mehr.
Neben solchen «alten Bekannten» könnte aber auch ein völlig neuer Gegner der Menschheit zu schaffen machen. Vielleicht wird Bio-Terrorismus eine Rolle spielen, wer weiss? So oder so: Dass es weitere Pandemien geben wird, gilt als sicher. Was wird dann passieren? Zwei Szenarien sind denkbar, eine optimistische und eine pessimistische.
In der optimistischen Variante hat die Welt aus der Corona-Krise die richtigen Lehren gezogen. Die internationale Zusammenarbeit läuft besser als beim letzten Mal, die Gesundheitsbehörden sind vorbereitet, Massnahmen werden nicht vorschnell verhängt, Regierungen und Medien informieren zurückhaltend.
Der gescheiterte WHO-Vertrag
Wahrscheinlicher ist allerdings die pessimistische Variante. Beispiel internationale Zusammenarbeit: Schon 2021 beschlossen die Mitgliedsländer der WHO, einen gemeinsamen Vertrag zur Pandemiebekämpfung zu schliessen. Dieses Pandemieabkommen scheiterte nach über zweijährigen Verhandlungen. Dazu beigetragen haben im Wesentlichen zwei Gründe. Der eine betrifft die Verteilungsgerechtigkeit. Die Länder des Südens forderten in den Verhandlungen, künftig nicht mehr benachteiligt zu werden und etwa einen besseren – sprich: kostengünstigen – Zugang zu Impfstoffen zu bekommen. Weil es dabei aber um Geld, Wissen und Macht geht, stellten sich viele andere Staaten gegen eine solche «Gleichbehandlung» – vor allem jene, in denen eine starke Pharmaindustrie zu Hause ist.
Der andere Grund für das Scheitern des Vertrags ist der allgemeinen Verunsicherung nach Corona geschuldet. So wird das geplante Pandemieabkommen immer wieder als «WHO-Diktatur» bezeichnet. Die Weltgesundheitsorganisation, so wurde behauptet, könne damit die Souveränität von Staaten aushebeln, sie werde einen Impfzwang einführen und im Krisenfall sogar Truppen entsenden. Die meisten solcher Behauptungen sind Verschwörungserzählungen, die entweder nicht zutreffen oder masslos aufgebauscht sind. Trotzdem fallen sie bei vielen auf fruchtbaren Boden.
Alles scheint heute möglich
Es zeigt sich hier der gleiche Mechanismus wie bei vielen anderen Themen rund um die Gesundheitspolitik. Mag auch der Bundesrat im Parlament beteuern, «dass der neue WHO-Vertrag keine Auswirkungen auf das souveräne Recht der Staaten haben wird» und «dass die Grundrechte nicht tangiert» würden – die Skepsis gegenüber der Weltgesundheitsorganisation ist gross, in der Bevölkerung, aber auch in höchsten Politikerkreisen.
Es ist ein Erbe der Corona-Zeit, dass viele alles Mögliche für möglich halten und zweifelhaften Social-Media-Quellen mitunter mehr Glauben schenken als den Auskünften der eigenen Landesregierung. Für künftige (Gesundheits-) Krisen sind das keine guten Vorzeichen.