Die Letzten beissen die Hunde
19.09.2023 PolitikDer Föderalismus hat viele Vorteile, aber auch eine grosse Schwäche: Wer ein Problem loswerden möchte, kann es relativ einfach weiterreichen. Ein aktuelles Beispiel ist das Asylwesen. Weil man sich beim Bund nicht einigen konnte, sind nun die Kantone am Zug – und die ...
Der Föderalismus hat viele Vorteile, aber auch eine grosse Schwäche: Wer ein Problem loswerden möchte, kann es relativ einfach weiterreichen. Ein aktuelles Beispiel ist das Asylwesen. Weil man sich beim Bund nicht einigen konnte, sind nun die Kantone am Zug – und die nehmen die Gemeinden in die Pflicht.
MARK POLLMEIER
Am vergangenen Freitag verschickte die Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI) eine nüchterne Mitteilung: «Asylwesen im Kanton Bern: Ausblick auf die kommenden sechs Monate». Dieser Ausblick ist wenig rosig. Bis März 2024 benötigt der Kanton zusätzlich weitere 1200 Unterbringungsplätze für Asylsuchende – Kapazitäten, die er faktisch nicht hat.
Derzeit ist man dabei, «die Schlafplätze zu verdichten», also die Betten in den bestehenden Kollektivunterkünften noch enger zusammenzuschieben. Um am Tageslicht Platz für Familien zu schaffen, werden Einzelpersonen gezielt unterirdisch einquartiert. Aber alle diese Massnahmen werden das grundsätzliche Problem nicht lösen – die aktuell bestehenden Reserven sind nicht ausreichend (siehe Kasten).
Der Ständerat stellt sich quer
Dass der Kanton in dieser Situation ist, hat er dem Bund zu verdanken. Die zuständige Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hatte wegen der angespannten Lage im Asylwesen vorgeschlagen, auf vier Grundstücken der Armee Containerdörfer zu errichten. Mit den so geschaffenen Plätzen wäre man für die steigenden Asylzahlen im Herbst besser gewappnet gewesen.
Im Nationalrat raufte man sich schliesslich zusammen: Nach zähen Verhandlungen und diversen Nachbesserungen stimmte die grosse Kammer dem Vorhaben zu. Doch dann kam der Ständerat. Er lehnte den nötigen Nachtragshaushalt ab und versenkte damit den Kompromiss.
Wenn man es ganz prinzipientreu nimmt, war diese Ablehnung sogar korrekt. Grundstücke und Anlagen der Armee dürfen erst beansprucht werden, wenn alle anderen Unterbringungskapazitäten erschöpft sind. Dementsprechend pochte der Ständerat darauf, dass die Kantone erst einmal ihre eigenen Möglichkeiten nutzen sollten, nämlich die Zivilschutzanlagen. Das wiederum wollten die Kantone nicht – sie bräuchten diese Anlagen selbst als Reserve.
So oder so: Das Unterbringungsproblem wurde vom Bund an die Kantone weitergegeben. Bis Ende August sollten sie angeben, wie viele zusätzliche Plätze für Asylsuchende und Flüchtlinge sie zur Verfügung stellen könnten. Das Ergebnis: Etliche Kantone meldeten genau null Plätze, vor allem jene aus der Zentralschweiz.
Statthalterämter auf der Suche
Und so geschieht, was in solchen Fällen immer geschieht: Nachdem man sich beim Bund nicht einigen konnte und diverse Kantone die Zusammenarbeit verweigerten, soll es nun die unterste Staatsebene richten.
Im Kanton Bern erwischt es zunächst die Regierungsstatthalterämter. Sie werden vom Kanton aufgefordert, geeignete Objekte für die Unterbringung zu finden. Falls nötig, sollen sie die Nutzung in den Gemeinden verfügen. Bloss: Regierungsstatthalter können sicher vieles – zaubern können sie nicht. Wenn es in ihrem Verwaltungskreis also keine «geeigneten Objekte» mehr gibt, können sie auch keine melden.
Was als Nächstes passieren könnte, hat die GSI vorsorglich bereits angekündigt: Der Kanton wäre gezwungen, die Notlage auszurufen. «Diese würde mit sich bringen, dass schlussendlich die Gemeinden für die Unterbringung von Asylsuchenden in die Pflicht genommen würden», heisst es wörtlich in der Medienmitteilung. «Um dieses Szenario zu vermeiden, ist ein enges Zusammenwirken von allen Staatsebenen (Bund, Kantone und Gemeinden) unerlässlich.»
Die aktuelle Lage im Kanton Bern
Aktuell hat die GSI im Kanton Bern 42 Kollektivunterkünfte in Betrieb – 27 mehr als noch vor zwei Jahren. Zurzeit befinden sich in der Verantwortung des Kantons rund 8000 Personen aus der Ukraine mit Schutzstatus S, 6300 Personen aus dem regulären Asylwesen und rund 520 unbegleitete Minderjährige. Durch die hohe Zuwanderung von Schutzsuchenden aus der Ukraine sowie von regulären Asylsuchenden werden laufend weitere Unterbringungsmöglichkeiten gesucht. 320 freie Plätze für Schutzsuchende sind aktuell noch frei, dazu rund 370 Plätze im regulären Asylbereich. Rund 50 Plätze stehen für unbegleitete Minderjährige bereit – zu wenig, sagt die GSI.
Bei ihrer Bedarfsplanung richtet sie sich nach den Annahmen des Staatssekretariats für Migration (SEM). Und nach diesen Prognosen wird die Zahl der freien Plätze in den nächsten Monaten nicht ausreichen.
POL
KOMMENTAR
Bund und Kantone stehlen sich aus der Verantwortung
Steigende Asylzahlen sind eine nationale Herausforderung. Doch statt sie auf nationaler Ebene anzugehen, verweigerte sich das Parlament einer pragmatischen Lösung. Als Nächstes versuchten die Kantone, mit föderalen Tricksereien möglichst gut wegzukommen. Motto: Sollen sich doch die anderen kümmern! Doch das Problem löst sich nicht in Luft auf, nur weil man es ignoriert, schon gar nicht kurzfristig bis zum Herbst. Die Flüchtlinge und Asylsuchenden kommen ja trotzdem. «Die Menschen sind da», sagte Regierungsrat Pierre Alain Schnegg an einem Pressetermin am letzten Freitag, «und wir haben die Aufgabe, sie unterzubringen.»
Diese Aufgabe wird nun wieder einmal an den Gemeinden hängenbleiben. Sie sind die Letzten in der «Nahrungskette» und dürfen das ausbaden, was man weiter oben blockiert hat. In diesem Fall ist das besonders ärgerlich, weil ein Kompromiss bereits auf dem Tisch lag.
Der Ständerat, der diesen Kompromiss abgeschossen hat, kann für sich in Anspruch nehmen, er habe streng nach Gesetz gehandelt. Formal mag das stimmen. Ob es jedoch der einzige Grund war, darüber lässt sich streiten – im Herbst stehen schliesslich Wahlen an.
MARK POLLMEIER
M.POLLMEIER@FRUTIGLAENDER.CH