Die Viertagewoche als Lösung
18.07.2023 Aeschi, AeschiriedThorsten Jung suchte verzweifelt nach ausgebildeten Spenglern für seinen kleinen Betrieb – ohne Erfolg. Dann beschloss er, die Wochenarbeitszeit zu reduzieren.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Die Auftragsbücher der Firma BHS Gebäudeschutz GmbH waren ...
Thorsten Jung suchte verzweifelt nach ausgebildeten Spenglern für seinen kleinen Betrieb – ohne Erfolg. Dann beschloss er, die Wochenarbeitszeit zu reduzieren.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Die Auftragsbücher der Firma BHS Gebäudeschutz GmbH waren voll, das Geschäft des Viermannbetriebes in Aeschi brummte. «Über Fachkräftemangel habe ich geschmunzelt», sagt der 55-jährige Thorsten Jung, der diese Firma 1995 gegründet und bisher immer gute Arbeiter gefunden hatte. Den Bereich Sanitär und Heizung verkaufte er kürzlich an einen Angestellten und konzentrierte seine Tätigkeit nun ganz auf die Spenglerei. Alles lief so, wie er sich das für die Zeit bis zur Pensionierung vorgenommen hatte. Dann kündigten nacheinander zwei seiner Angestellten – aus gesundheitlichen Gründen und wegen Wegzugs – und Thorsten Jung war im Frühjahr plötzlich mit dem Lehrling alleine in der Werkstatt. Er befand sich genau in dieser Situation, über die er zuvor gelächelt hatte.
Von 0 Bewerbungen auf 16
«Ich habe seit letztem Herbst über 20 000 Franken für Stelleninserate ausgegeben und mit den klassischen Leistungen eines modernen Arbeitgebers geworben – zum Beispiel mit einem Firmenfahrzeug, einer 40-Stunden-Woche gemäss Gesamtarbeitsvertrag usw. Es ging aber keine einzige Bewerbung ein, nicht eine einzige», schaut Thorsten Jung zurück. Nach vielen Überlegungen sah er für seinen Betrieb nur noch die Möglichkeit, etwas ganz Neues auszuprobieren: die Viertagewoche mit 80 Prozent Arbeitszeit bei 100 Prozent Lohn. Dieser gewagte Entscheid hat sich gelohnt: Auf die erneute Ausschreibung meldeten sich 16 Spengler, teils langjährige Mitarbeiter anderer Betriebe. «Offenbar besteht ein Bedürfnis nach mehr freier Zeit für Sport oder Hobby. Das geht natürlich nur, wenn die Leistung am Arbeitsplatz dennoch stimmt.»
Auch die Nachfolge im Blick
Heute kann sich der Firmeninhaber zwar nicht zurücklehnen. Die Auftragsbücher sind für dieses Jahr ziemlich gefüllt, und auch fürs kommende Jahr sieht es schon gut aus. Aktuell hat er einen und in wenigen Tagen einen weiteren neuen gelernten Spengler in seiner Firma. Zu Jungs Freude will sein Sohn – ein gelernter Dachdecker – bei ihm eine Zusatzausbildung zum Spengler machen und in den Betrieb einsteigen. Auch der zweite Sohn, ein gelernter Metallbauschlosser, hat Interesse geäussert. Die Nachfolgeregelung, die bei KMU ebenfalls ein Dauerthema ist, scheint bei Thorsten Jung nun aufgegleist zu sein.
Handwerkerkollegen hätten zuerst eher abschätzig auf sein Vorgehen reagiert, zeigten sich nun aber zunehmend interessiert, da sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt in absehbarer Zeit wohl nicht verbessern dürfte (siehe Kasten). «Aber die ersten Erfahrungen zeigen, dass ich richtig liege. Da sich die Angestellten untereinander absprechen mit ihren freien Tagen, wird dennoch von Montag bis Freitag gearbeitet, und die Kunden merken nichts von unserem neuen Arbeitsmodell. Die Leistung stimmt auch», freut sich der Unternehmer.
Fachleute ausbilden – und behalten
Der Lehrling – bald im dritten Lehrjahr – ist pro Woche einen Tag in der Berufsschule, ihn betrifft die Viertagewoche daher nicht. Jung betont, dass ihm die Ausbildung von neuen Fachleuten ein grosses Anliegen sei, er habe immer Lehrlinge in seinen verschiedenen Betrieben gehabt. «Ich sagte diesen jeweils, dass sie nach Abschluss der Lehre unbedingt in anderen Firmen arbeiten müssten, um Erfahrungen zu sammeln und sich weiterzubilden. In der aktuellen Situation würde ich wohl nicht mehr darauf drängen. Gute und vor allem auch gelernte Arbeitskräfte möchte ich jetzt gerne behalten.» Aber es sei eine Tatsache, dass handwerkliche Berufe zunehmend Nachwuchsprobleme hätten. Die Frage, wohin das führen werde, beschäftigt den 55-Jährigen spürbar.
Wieviel arbeitet der Chef?
Thorsten Jung betont, wie verzweifelt die Lage in den letzten Monaten gerade in seinem kleinen Betrieb gewesen sei, der auf jeden einzelnen Angestellten und dessen Engagement angewiesen sei. Für ihn selbst hat der Koordinationsaufwand vor allem jetzt in der Anfangsphase der Umstellung zugenommen. Ihm sei auch klar, dass man das nicht einfach auf Knopfdruck einführen oder dann unter andern Umständen zum alten Modell zurückkehren könne. In zehn Jahren werde die Viertagewoche wohl vielerorts normal sein, prognostiziert er. «Aber als Chef arbeite ich wie vorher sieben Tage pro Woche. Für mich persönlich ist die Viertagewoche kein Thema.»
Personalmangel als Bremsklotz
Eine aktuelle Umfrage des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes legt dar, dass fehlendes Personal eine der Hauptsorgen von Unternehmen ist. So rechnen die Betriebe in allen betrachteten Branchen nach wie vor mit einem Stellenausbau. Der Fachkräftemangel bleibt ein Thema, auch wenn sich die Wirtschaftslage abkühlt. Fast alle Branchen würden sich aufgrund dieses Problems unter ihrem Potenzial entwickeln. Der Arbeitskräftemangel bleibt somit der grösste Bremsklotz der Schweizer Wirtschaft. Unternehmen würden auch künftig händeringend nach geeignetem Personal suchen. «Mit einem starken Abklingen des Arbeitskräfteengpasses ist in naher Zukunft kaum zu rechnen. Zum einen besteht Nachholbedarf als Folge der vielen unbesetzten Stellen in den Betrieben – zum anderen sinkt das inländische Arbeitskräfteangebot durch das Ausscheiden der Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt ohne Kompensation durch jüngere Jahrgänge», lautet das nicht eben zuversichtliche Fazit der Arbeitgeber.
HSF