«Die Volksinitiative ist heute kein Volksrecht mehr, sondern ein Produkt»
16.07.2024 InterviewDer frühere Bundesratssprecher Oswald Sigg ist in diesem Frühjahr 80 Jahre alt geworden – und hat noch immer nicht genug von der Politik. Einmal mehr beschäftigt er sich derzeit mit seinem «Lebensthema», der Volksinitiative. Sigg sieht dieses direktdemokratische ...
Der frühere Bundesratssprecher Oswald Sigg ist in diesem Frühjahr 80 Jahre alt geworden – und hat noch immer nicht genug von der Politik. Einmal mehr beschäftigt er sich derzeit mit seinem «Lebensthema», der Volksinitiative. Sigg sieht dieses direktdemokratische Instrument in Gefahr und fordert im Interview, man müsse «das Geld in der Demokratie verbieten».
Oswald Sigg, bereits in Ihrer Doktorarbeit beschäftigten Sie sich mit der Wirkungsweise von Volksinitiativen. Aktuell schreiben Sie ein Buch über Volksabstimmungen und vertreten darin die Meinung, dass diese in den vergangenen Jahrzehnten der Kommerzialisierung zum Opfer gefallen sind. Woran machen Sie das fest?
Im Verlauf der Geschichte ist der ganze Prozess – vom Verfassen des Initiativtextes bis zur Abstimmung – immer teurer geworden. Heute kostet eine Volksinitiative eine Partei zwischen fünf und sechs Millionen Franken. Die Volksinitiative ist heute kein Volksrecht mehr, sondern sie ist ein Produkt geworden. Heute finden Sie rund um das Bundeshaus in Bern über 30 Kommunikationsagenturen, die Ihnen bei Volksinitiativen helfen. Die machen alles: Initiativtext schreiben, Kampagnen planen, Unterschriften sammeln, diese beglaubigen lassen und einreichen sowie den Abstimmungskampf führen. Am Ende kommt noch ein Apéro riche am Abstimmungssonntagabend, den organisieren sie auch noch. Und das alles für ein paar Millionen Franken.
Welche Gefahren sehen Sie für unsere direkte Demokratie?
Das ist ganz einfach. Eine direkte Demokratie bedeutet, dass jeder Bürger und jede Bürgerin aktiv mitwirken kann. Doch heute funktioniert das nur noch mit ausreichenden finanziellen Mitteln.
Somit kann man ohne ein gewisses Startkapital gar nicht mehr aktiv an der direkten Demokratie teilnehmen?
Nein. Es braucht immer mehr Geld, um eine Volksinitiative bis zur Abstimmung zu bringen. Je mehr investiert wird, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, in der direkten Demokratie etwas zu bewirken. Ohne finanzielle Mittel kann man nichts ausrichten. Es gibt einen alten Grundsatz aus der Französischen Revolution, der heute in allen zivilisierten Verfassungen enthalten ist, auch in unserer Bundesverfassung: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Bei uns ist das jedoch anders. Einfach gesagt: Die Reichen, die ihr Geld in die direkte Demokratie statt in Aktien investieren, haben in der politischen Schweiz bessere Chancen, politisch etwas zu erreichen.
Welche Lösungsansätze gäbe es denn?
Wir müssen das Geld aus der direkten Demokratie verbannen, denn es kann nicht sein, dass wir heute praktisch nur noch mit Geld eine Initiative bis ins Parlament oder gar vors Volk bringen können. Die EU verschärft gerade die Vorschriften für politische Werbung. Bei uns ist dagegen alles erlaubt. Es haben sich Geschäftsmodelle ergeben, die es früher nicht gab, etwa bei der Unterschriftensammlung. Es gibt Firmen, die Unterschriftensammelnde angestellt haben. Jedes Initiativkomitee kann diese engagieren, es kostet einfach Geld. Als wir die zwei Volksinitiativen Grundeinkommen und Mikrosteuer lanciert hatten, machten wir auch von einem solchen Unternehmen Gebrauch. Die Agentur befindet sich in Lausanne und ist sehr pflichtbewusst. Bei der letzten Initiative vor einigen Jahren bezahlten wir pro beglaubigte Unterschrift noch zwischen 1.50 und zwei Franken. Heute kann eine Unterschrift nahezu sieben Franken kosten. Bei 120 000 Unterschriften kommt eine enorme Summe zusammen, das ist einfach irrsinnig. Deshalb bin ich der Meinung, wir müssten das Bundesgesetz über die politischen Rechte aus den 1970er-Jahren totalrevidieren und das Geld in der Demokratie verbieten.
Was sagt Ihnen Ihr Gefühl: Ist es realistisch, dass ein solches Verbot umgesetzt würde?
Ich kann schwer einschätzen, wie realistisch das ist. Bei den Wahlen fliesst auch immer viel Geld, im Herbst 2023 wurden Millionenbeträge für den Wahlkampf eingesetzt. Ich sage immer: In unserem Parlament sitzt niemand, der von der Sozialhilfe lebt. Solche Menschen haben keine Stimme. Ich glaube, es gibt nur zwei oder drei IV-Bezüger in unserem Parlament. Wer für ein höheres Amt kandidiert, muss je nach Partei 15 000 bis 30 000 Franken investieren, manchmal sogar mehr. Wer kann sich das leisten?
Was ist Ihr Anspruch an die Politik?
Dass es dem Bürger und der Bürgerin gut geht und dass sie in dieser direkten Demokratie zu ihrem Recht kommen, und zwar ohne Geld.
In Ihrer politischen Laufbahn haben Sie sich mehrmals für ein bedingungsloses Grundeinkommen eingesetzt, für die Schulkoordination oder für die Mikrosteuer. Sie haben also einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn?
Wir müssen eine politische Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz wahren, denn dies ist eine der grossen Errungenschaften der Französischen Revolution. Im Grunde waren die Menschen immer von unten nach oben organisiert, um die Adelsschicht oder die Wohlhabenden in die Pflicht zu nehmen. Denn diese hatten zu viel Macht, beziehungsweise: haben sie heute noch. Und das finde ich nicht richtig.
Das vollständige Interview mit Oswald Sigg wurde geführt von Jocelyne Page und erschien Ende Mai im «Anzeiger von Saanen». Wir veröffentlichen es in Auszügen.
ZUR PERSON
Oswald Sigg wurde 1944 in Zürich geboren und ist dort aufgewachsen. Nach der kantonalen Handelsschule in Freiburg absolvierte er ein Studium der Soziologie, Volksund Betriebswirtschaft an den Universitäten St. Gallen, Paris und Bern.
1978 promovierte er am Forschungszentrum für schweizerische Politik an der Universität Bern mit einer Doktorarbeit über die Wirkungsweise der Volksinitiative. Bei der Bundesverwaltung arbeitete er von 1975 bis 1988 in verschiedenen Departementen abwechselnd als Informationschef. Von 1988 bis 1990 war er Chefredaktor und Geschäftsleitungsmitglied der Schweizerischen Depeschenagentur, von 1991 bis 1997 Unternehmenssprecher der Generaldirektion SRG.
1998 kehrte er in den Bundesdienst zurück und wurde Informationschef des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) und 2004 Stabschef des Departements Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, bevor er von 2005 bis 2009 Vizekanzler und Bundesratssprecher war. Innerhalb der Bundeskanzlei war er verantwortlich für den Bereich Information und Kommunikation.
Politisch startete er seine Karriere als Mitglied der BGB-Jugendfraktion, wechselte aber 1973 zur Sozialdemokratischen Partei SP und wurde Mitglied der Gewerkschaft Syndicom. Er erarbeitete und lancierte verschiedene Volks-initiativen, wie jene über das bedingungslose Grundeinkommen oder jene über die Mikrosteuer auf dem Zahlungsverkehr.
JOCELYNE PAGE