Dreieck des Anstosses
01.10.2024 GesundheitDer Bund hat seine Ernährungsempfehlungen überarbeitet und dabei erstmals auch ökologische Kriterien angewandt. Den Landwirten passt die neue Lebensmittelpyramide nicht, da sie das Fleisch herabstufe. Umweltschützer beklagen das Gegenteil. Dabei hat sich im Grunde kaum ...
Der Bund hat seine Ernährungsempfehlungen überarbeitet und dabei erstmals auch ökologische Kriterien angewandt. Den Landwirten passt die neue Lebensmittelpyramide nicht, da sie das Fleisch herabstufe. Umweltschützer beklagen das Gegenteil. Dabei hat sich im Grunde kaum etwas geändert.
BIANCA HÜSING
Wahrlich, wir leben in aufgebrachten Zeiten! Jedes noch so harmlose Thema löst Grabenkämpfe aus, weil es immer auch eine moralische Dimension birgt. Smalltalks übers Wetter oder über die neuen Jeans sind praktisch nicht mehr möglich. Besonders hitzig sind die Diskussionen ums Essen – wenn das Grosi einmal im Jahr gross auftischt, dabei aber konsequent den veganen Enkel «vergisst». Ernährung ist schon deshalb ein vermintes Gebiet, da sie unmittelbar mit dem Körper des Essers – und sogar mit dessen Identität – in Verbindung gebracht wird («Du bist, was du isst.»). Dass das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) nicht geräuschlos seine Lebensmittelpyramide überarbeiten kann, versteht sich vor diesem Hintergrund von selbst.
Gebratene Pouletbrust statt rohes Steak
Vor Kurzem hat besagtes BLV gemeinsam mit der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung erstmals seit 13 Jahren neue Empfehlungen herausgegeben. Und die ersten Reaktionen folgten prompt: Der Branchenverband Proviande beklagte eine «Marginalisierung» von Fleisch und meinte, es gebe «keinen Grund, die empfohlene Menge an Fleischkonsum zu verringern». Eine Woche später meldete sich auch der Berner Bauern Verband zu Wort und kritisierte eine «realitätsferne Herabstufung von Fleisch».
Was war da los? Hat der Bund etwa das Fleisch aus dem Ernährungsplan geworfen? Mitnichten. Die neue Lebensmittelpyramide empfiehlt maximal zwei bis drei Portionen Fleisch (à 100 bis 120 Gramm) pro Woche – genau wie die alte Version von 2011. Damals wurde zu einem «massvollen» Konsum geraten im Bewusstsein darum, «dass zwei bis drei Portionen pro Woche genügen». Verändert hat sich lediglich die grafische Darstellung: Statt eines rohen Steaks in der Mitte der Pyramide findet sich nun eine gebratene Pouletbrust am Rand. «Halb versteckt», wie Proviande moniert. Tatsächlich muss man schon genau hinsehen, um sie überhaupt zu entdecken. Den Branchenverband stört zudem, dass rotes Fleisch vom Rind oder Schwein aus der Darstellung verschwunden ist – eine Kritik, die zuvor ebensogut von der Geflügel-Lobby hätte kommen können. Ihr Produkt tauchte schliesslich in der alten Pyramide auch nicht auf.
De facto rät das BLV weder von Rindnoch von Pouletfleisch ab – was wiederum die Gegenseite ärgert. In einer gemeinsamen Medienmitteilung schreiben WWF, BirdLife und Greenpeace von einer «verpassten Chance», eine «relevante Konsumreduktion von Tierprodukten» zu empfehlen. Die landwirtschaftliche Tierhaltung sei die grösste Stickstoffemittentin der Schweiz und wirke sich darüber hinaus auch aufs Klima aus. Der Berner Bauern Verband weist dies jedoch von sich und betont die «hohen ökologischen Standards» der einheimischen Fleischproduktion.
Neues Kriterium: Ökobilanz
Aber Moment mal: Was hat die Ökologie überhaupt in der Lebensmittelpyramide zu suchen? Ging es hier nicht eigentlich um gesunde Ernährung? Grundsätzlich schon. Dieses Mal haben das BLV und die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung aber explizit auch Umweltaspekte in die Empfehlungen einfliessen lassen. Konkret habe man die Ökobilanz der Lebensmittel errechnet, sprich: wie viel Treibhausgas bei Produktion und Transport ausgestossen wird, wie viele Ressourcen verbraucht werden und wie viel Abfall anfällt. Dass Hülsenfrüchte dieses Jahr hochgestuft wurden und nun in einer Reihe mit anderen Eiweiss- und Vitamin-B12-Lieferanten auftauchen, hängt unter anderem mit ihrer Ökobilanz zusammen. «Die Belastung der Fleischproduktion ist mehr als zehnmal so hoch wie diejenige der Hülsenfruchtproduktion», schreibt das BLV in einem Erläuterungsbericht. «Selbst beim Konsum eines importierten pflanzlichen Produkts ist die Umweltbelastung immer noch geringer als beispielsweise bei in der Schweiz produziertem Fleisch.»
Der neue Nachhaltigkeitsaspekt macht sich auch in optischen Details bemerkbar: Die Plastikflasche von 2011 ist einer Mehrwegflasche gewichen. Begründet wird das Ganze damit, dass man die Ernährung «als Gesamtökosystem» betrachten müsse. Grundsätzlich sei die Umwelt auch nur ein Aspekt unter mehreren: Gesundheit, Soziales, Wirtschaft und Kultur.
Kein Fruchtsaft mehr abgebildet
So sehr sich die verschiedenen Lobbygruppen auch darüber streiten mögen: Bahnbrechend neu ist die Lebensmittelpyramide 2024 nicht. Die Grundsätze sind seit der allerersten Version von 1998 gleich: Wasser bildet das Fundament, von Schoggi und Chips sollte man dagegen besser die Finger lassen.
Fruchtsäfte sind nun aus der Pyramide verschwunden, weil sie nicht die Vorteile von Obst, dafür aber zusätzliche Nachteile mit sich bringen. Empfohlen werden maximal acht Deziliter pro Woche – allerdings nur reinen Fruchtsaft ohne zusätzlichen Zucker. Ausserdem wurden die Öl- und Nussmengen leicht reduziert.
Davon abgesehen handelt es sich nicht um Vorschriften, sondern um Empfehlungen, die – Hand aufs Herz – viele von uns spätestens beim nächsten TV-Abend sowieso wieder ignorieren.
EIN IMPORT AUS DEM NORDEN
Die Lebensmittelpyramide ist ursprünglich eine Erfindung der schwedischen Hauswirtschaftslehrerin und Autorin Anna-Britt Agnsäter. Um der zunehmend butterlastigen Küche und den fettreichen Menüs damaliger Fernsehköche etwas entgegenzusetzen, gab sie 1974 Empfehlungen für eine gesunde und bezahlbare Ernährungsweise heraus. Ihr Pyramidenschema wurde später von mehreren Staaten kopiert und an jeweilige nationale Gewohnheiten oder nach wirtschaftlichen Interessen angepasst. Die erste Schweizer Version wurde 1998 veröffentlicht und seither mehrmals weiterentwickelt.