Ein Abend gespickt mit Kuriositäten

  22.11.2022 Kandersteg

Die Gemeindeversammlung verlief diskussionsfrei. Unterhaltsam war der Anlass dennoch – und zwar nicht trotz mehrerer Unterbrüche, sondern gerade deswegen.

JULIAN ZAHND
Das Budget 2023 war wohl kaum der Grund, weshalb der Gemeindesaal am Freitagabend so gut besetzt war. 198 StimmbürgerInnen fanden den Weg an die Herbst-Gemeindeversammlung. Sie erhielten von Heinz Steiner, Gemeinderat im Ressort Finanzen, zunächst ein paar Zahlen serviert: Fürs kommende Jahr rechnet die Gemeinde mit einem Defizit von etwas über 100 000 Franken. Die Steueranlage bleibt unverändert bei 1,8 Einheiten, einzig die Abwassergebühren steigen um zehn Prozent. Investitionstechnisch hat die Gemeinde wenig Spielraum: Kandersteg ist hoch verschuldet, das Fremdkapital soll angesichts der steigenden Zinsen unter keinen Umständen anwachsen. Deshalb schnallt die Gemeinde den Gürtel enger, die Nettoinvestitionen sind mit gut einer halben Million Franken deutlich tiefer als in den Vorjahren, werden dafür aber zu 100 Prozent aus Eigenmitteln gestemmt.

Die zurückhaltende Ausgabenpolitik war offensichtlich nachvollziehbar. Das Budget 2023 wurde diskussionslos angenommen.

Der «dritte Wahlgang» fand im Es-Horn statt
Kurz darauf folgte mit der Ersatzwahl des vorzeitig abtretenden Gemeinderates Sebastian Bichsel einer der ersten Höhepunkte des Abends. Patrick Jost (Die Mitte) und Miriam Schneider (SVP) bewarben sich um den frei werdenden Sitz. Unabhängig von ihrem Abschneiden hätten die beiden Kandidierenden schon jetzt Applaus verdient, leitete Barbara Jost die Wahl ein. Gleichzeitig hielt die Gemeindpräsidentin fest: «Es wird heute aber einen Gewinner und einen Verlierer geben.» Zu diesem Zeitpunkt ahnte im Saal wohl niemand, wie falsch sie mit dieser Aussage lag.

Womöglich fragte sich der eine oder die andere Anwesende, weshalb Barbara Jost kurz darauf explizit einen «ersten Wahlgang» ausrief. Warum sollten bei lediglich zwei Kandidierenden mehrere Wahlgänge nötig sein? «Mehrere Runden gäbe es nur im unwahrscheinlichen Fall, dass beide Kandidierenden genau dieselbe Anzahl Stimmen erhielten», so die Präsidentin auf Nachfrage.

Und natürlich kam es genau so: Jost und Schneider erhielten im ersten Wahlgang je 95 Stimmen. Drei Bürger-Innen legten leer ein, vier Wahlzettel waren ungültig. Diesen sieben StimmbürgerInnen galt der Appell Barbara Josts, während die Stimmzettel erneut ausgeteilt wurden: «Bitte schreibt doch einen gültigen Namen auf den Zettel – also nicht Joe Biden.» Hatte eine/r der Anwesenden tatsächlich diesen Namen aufgeschrieben?

Immerhin liessen sich im zweiten Wahlgang zwei Unentschlossene zu einem regulären Entscheid bewegen: Eine Stimme ging ans Lager Schneider, eine ans Lager Jost. Das zweite Patt war damit perfekt.

Im US-Senat fällt die Vizepräsidentin in einer solchen Situation den Stichentscheid. So weit reichten die Kompetenzen der Kandersteger Gemeindepräsidentin zwar nicht, aber immerhin durfte (oder musste) sie kurzzeitig als Glücksfee amtieren: Bei einem Unentschieden sieht die Gemeindeordnung nämlich die Wahl per Losverfahren vor. Jost bat die anwesende Musikgesellschaft um ein geeignetes Blasinstrument für den «dritten Wahlgang», also die Ermittlung des Siegers via Losentscheid. Schliesslich landeten die zwei Kandidatennamen in einem Es-Horn und die Gemeindepräsidentin zog den Zettel von Miriam Schneider.

Das Bild passte insofern zur Siegerin, als dass sie im Vorfeld als Kandidatin mit politischem «Musikgehör», also als Brückenbauerin, gepriesen worden war. Schneiders Wahlspruch lautete denn auch: «Mehr wir als ich.» Die frisch gewählte Gemeinderätin verbleibt nun für zwei Jahre im Amt, bevor es zu Gesamterneuerungswahlen kommen wird. Vermutlich fällt der Naturliebhaberin das Ressort ihres Vorgängers zu: Naturgefahren, Öffentliche Sicherheit und Tourismus.

Truthähne und ein erheiternder Werbefilm
Selbst das Warten auf die Wahlergebnisse gestaltete sich an diesem Abend unterhaltsam. Zunächst bat Gemeinderatspräsident René Maeder die JungbürgerInnen auf die Bühne, um sie in der politischen Gemeinde willkommen zu heissen. Zunächst sprach er aber von Truthähnen. «Wenn es regnet, so besagt ein Mythos, schauen diese Tiere in den Himmel, sperren den Schnabel weit auf – und ertrinken.» Dieses Verhalten erinnere ihn an manche Menschen. «Wenn sie etwas stört, suchen viele Leute sofort nach Schuldigen und beklagen sich lautstark.» Dabei lasse sich mit Besonnenheit und Vernunft viel mehr erreichen und genau diese Eigenschaften wünschte Maeder den jungen Leuten auf der Bühne. «Wir können den Regen nicht aufhalten – aber wir können ihm ausweichen.» Er hoffe, dass sich die JungbürgerInnen künftig mit kühlem Kopf und nicht bloss mit lauter Stimme am politischen Prozess beteiligen würden. Ob Maeders Worte verfingen, wird sich spätestens an der nächsten Gemeindeversammlung zeigen.

Für Erheiterung sorgte zudem ein Tourismusfilm von 1970, der während des zweiten Wahlgangs zur zeitlichen Überbrückung gezeigt wurde. Ob das Freibad heute mit einer Wassertemperatur von 22 Grad noch immer punkten könnte? Das Publikum quittierte das stolz gepriesene Schild im Film mit Gelächter. Gefallen fand es auch an der Szene, in der ein Strahler nach kurzer Suche ganz «zufällig» einen etwas gar blank polierten Kristall aus einer Felsritze zog.

«Ich weiss, woher ich komme»
Und natürlich war da noch Adolf Ogi. Anlässlich seines 80. Geburtstags war am Ende der Veranstaltung eine Laudatio traktandiert und es passte zu diesem Abend, dass die Anwesenden keine gewöhnliche Lobrede zu hören bekamen. Die Gemeinde hatte im Vorfeld diverse Wegbegleiter des alt Bundesrates ausfindig gemacht, die in einem Kurzfilm Anekdoten aus Ogis Leben preisgaben. So erfuhr man von einem ehemaligen Schulkollegen etwa, dass die Knaben während des Religionsunterrichts unter dem Pultdeckel «Schundliteratur» gelesen hätten. Besonders gut funktionierte der Film dann, wenn geübte Geschichtenerzähler vor die Kamera traten. So bedankte sich der ehemalige Gemeindepräsident Bruno Jost bei Ogi für das «Studium», das ihm dieser ermöglicht habe. Dabei sprach er den Besuch des damaligen Prinz Charles in Kandersteg an, von dessen Ohren man schon sehr viel gehört habe. «Ich durfte dem Empfang beiwohnen und sass während längerer Zeit dicht hinter dem Prinzen. Dabei hatte ich die Gelegenheit, diese Ohren ausgiebig zu studieren», so Jost.

Die Musikgesellschaft Kandersteg erwies dem anwesenden alt Bundesrat mit mehreren Stücken die Ehre, unter anderem mit dem Titel «Freude herrscht», und als Ogi zusammen mit seiner Ehefrau die Bühne betrat, erhielt er von der Gemeinde einen «Korb voll Kandersteg» überreicht. Dazu gehörte etwa ein Stück des «Spitzen Steins».

Ogi liess es sich nicht nehmen, am Schluss noch selbst ans Rednerpult zu treten, um seinerseits eine Laudatio auf seine Gemeinde zu halten. «Ich weiss, woher ich komme. Und ich weiss, was ich diesem Ort zu verdanken habe», so der sichtlich bewegte alt Bundesrat.

Wortgewaltig und eindringlich: Auch im Alter von 80 Jahren weiss Adolf Ogi noch, wie man seine ZuhörerInnen fesselt. Die Gemeinde dankte es ihrem Ehrenbürger mit stehendem Applaus.


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