Ein ausgezeichnetes Trauerspiel
13.09.2022 AnalyseMan soll Einzelerlebnisse und die persönliche Wahrnehmung nicht zum Grundsätzlichen aufbauschen. Wenn aber zu einem Konzert mit preisgekrönten MusikerInnen nur eine Handvoll Leute kommen, dann stimmt irgendetwas nicht.
Ein Prophet gilt nirgends weniger als ...
Man soll Einzelerlebnisse und die persönliche Wahrnehmung nicht zum Grundsätzlichen aufbauschen. Wenn aber zu einem Konzert mit preisgekrönten MusikerInnen nur eine Handvoll Leute kommen, dann stimmt irgendetwas nicht.
Ein Prophet gilt nirgends weniger als im eigenen Land, klagt Jesus im neuen Testament, und wer sich am frühen Samstagabend in der reformierten Kirche Kandersteg einfand, dem mag dieser Gedanke vielleicht auch gekommen sein. Um 18 Uhr trat dort das Sonoris Piano Trio auf, sympathische junge Leute, die mit Geige, Cello und Klavier vor allem Werke aus der Zeit der Romantik spielten (Konzertbericht siehe oben). Zieht man die «Offiziellen» ab, besuchten das Konzert vielleicht 20 oder 25 Leute. Mit einer derart überschaubaren Gästeschar ist dann selbst die kleine Kandersteger Kirche nur sehr locker besetzt.
Da helfen auch die schönen Preise nichts
Das Sonoris Piano Trio wurde im vergangenen Jahr am Orpheus-Wettbewerb für Kammermusik ausgezeichnet. Das Swiss Chamber Music Festival, das am Samstag in Kandersteg zu Gast war, hat soeben den grossen Kulturpreis des Kantons Bern gewonnen – gerade weil sich die Organisatoren bemühen, die Konzerte nicht auf Adelboden zu konzentrieren, sondern auch andere Orte einzubeziehen. Genützt hat all das offenkundig nichts: Das Interesse an dieser Veranstaltungsreihe bleibt sehr überschaubar. Woanders gewinnt das Festival Preise – dort wo es stattfindet, spielt der ausgezeichnete Musiknachwuchs vor halbleeren Reihen. Es ist ein Trauerspiel.
Man kann natürlich immer Gründe finden, warum etwas nicht «zieht». Der Termin zu früh, das Wetter zu kalt, die Konkurrenz zu gross; irgendetwas wird es schon sein. Um beim genannten Beispiel zu bleiben: In Kandersteg hatte die örtliche Musikgesellschaft am Nachmittag ein Herbstkonzert gespielt, und wer diesen Anlass besuchte, der ging wohl am Abend nicht auch noch zum Klassikkonzert in der Kirche. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Swiss Chamber Music Festival nach über zehn Jahren noch immer nicht im Tal angekommen ist. Die meisten Kander- und Engstligtaler werden mit der Kammermusik wohl nicht mehr warm werden.
Und das ist auch legitim. Wie bei der Religion kann man auch in der Musik niemanden zwingen, sie schön zu finden. Keiner muss Streichquartette oder Klarinettentrios mögen. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn man das Festival in Orten wie Adelboden oder Kandersteg wenigstens als Teil des touristischen Angebots wertschätzen würde. Wenn schon die Einheimischen das Festival weitgehend ignorieren oder gar die Nase darüber rümpfen – vielleicht interessieren sich die Feriengäste dafür?
Das Festival als Fremdkörper
Am Samstagabend ging es nach dem Auftritt des Sonoris Piano Trio ins benachbarte Hotel Victoria zum After Concert Apéro. Nach einem Glas Wein nahmen die drei MusikerInnen ganz unkompliziert in einer Ecke der Lobby Platz und spielten noch einmal auf. Und während auf der einen Seite der Glaswand Schumann erklang, wurde auf der anderen Seite getafelt – Essenszeit. Manchmal liess einer der Hotelgäste die Verbindungstür zwischen den beiden «Welten» offen stehen, worauf sie vom Personal eilig wieder geschlossen wurde. Eine treffende Symbolik: das Festival als Fremdkörper und Störfaktor.
Niemand kann ein Interesse daran haben, dass es bei diesem Zustand bleibt. Das Ziel muss vielmehr sein, das Swiss Chamber Music Festival besser in der Region zu verankern – und sei es nur als Leuchtturmprojekt, dessen Strahlkraft weit über das Frutigland hinausreicht. Allein, dass Orte wie Adelboden und Kandersteg, die überwiegend vom Tourismus leben, im Zusammenhang mit dem Festival alljährlich in den überregionalen Medien auftauchen, würde diese Anstrengung rechtfertigen.
Hemmschwellen abbauen
Wenn es um die Wahrnehmung «im eigenen Land» geht, ist auch die Festivalleitung gefragt. Dabei stehen gar nicht die grossen Leitlinien auf dem Prüfstand; die sind gegeben. Es sind eher kleine, aber möglicherweise entscheidende Aspekte, bei denen sich ein genaueres Hinsehen lohnt. Versteht man in der Region, wie das Festival «funktioniert» und wie es mit dem Orpheus-Wettbewerb zusammenhängt? Sind die Uhrzeiten, zu denen die Konzerte stattfinden, günstig (Beispiel Kandersteg: 18 Uhr)? Kann man voraussetzen, dass jede/r weiss, was eine Wildcard ist?
Manchmal werden mit scheinbar banalen Details unnötige Hürden aufgebaut. Selbst errichtete Hemmschwellen sind jedoch das Letzte, was dieses Festival gebrauchen kann.