Eine Export-Geschichte
24.11.2023 GesellschaftMIGRATION 800 000 SchweizerInnen leben heute im Ausland. Wie viele davon aus der Landwirtschaft kommen, weiss niemand. Dass es aber häufig Bauernfamilien waren, die auswanderten, ist bekannt. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert verliessen sie die Heimat aus Armut, später ...
MIGRATION 800 000 SchweizerInnen leben heute im Ausland. Wie viele davon aus der Landwirtschaft kommen, weiss niemand. Dass es aber häufig Bauernfamilien waren, die auswanderten, ist bekannt. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert verliessen sie die Heimat aus Armut, später wegen des Wunsches nach mehr Land und aus Abenteuerlust.
Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Schweiz ein klassisches Auswanderungsland. Die Gründe, das Land zu verlassen, waren vielfältig. Zunächst waren es vor allem junge Männer, die als Söldner in die Ferne zogen. Später gaben oft wirtschaftliche Krisen den Ausschlag, daneben Arbeitslosigkeit, Naturkatastrophen und die fortschreitende Industrialisierung.
Allein zwischen 1798 und 1914 verliessen rund eine halbe Million Menschen die Schweiz auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen. Teilweise wurden sie von ihren Heimatgemeinden aktiv unterstützt, um nicht zu sagen: gedrängt. Es sind Fälle dokumentiert, in denen Gemeinden mehreren Personen auf einmal die Überfahrt nach New York bezahlten, um sie auf diesem Weg loszuwerden und die örtliche Armenpflege zu entlasten.
Lebensmittelimporte führen in die Krise
Insbesondere im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts stammt ein erheblicher Teil der Auswanderer aus ländlichen Gegenden. In den 1870er- und 1880er-Jahren macht eine Agrarkrise der Schweizer Landwirtschaft zu schaffen. Der Import ausländischer Produkte wird durch den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, insbesondere des Schienennetzes, immer einfacher. Die aufwendig produzierten heimischen Waren können mit dieser billigeren Konkurrenz nicht mehr mithalten. Viele Schweizer Bauern überschulden sich; rund ein Viertel kann irgendwann die Zinsen nicht mehr zahlen und geht in Konkurs.
Als letzten Ausweg aus der Krise machen sich viele von ihnen nach Nordamerika auf, Molkereispezialisten wandern in die europäischen Nachbarländer bis nach Russland aus.
Der Exodus aus der Heimat hält auch in den folgenden Jahren an. Damit die Behörden nicht den Überblick verlieren, werden Auswanderungswillige damals in Karteien erfasst. Eine solche Kartei aus der Zeit um 1910 zeigt: Fast alle Auswanderer sind bäuerlicher Herkunft. Und noch etwas verrät das Archiv: 90 Prozent der Ausreisenden wählen in jenen Jahren die USA und Kanada als Ziel – denn diese Länder nehmen noch bereitwillig Einwanderer auf.
Auswanderung wird staatlich geregelt
Lange Zeit wird die Auswanderung von Bundesbern weder gefördert noch unterbunden. Erst 1874 schafft der Bundesrat mit dem Verfassungsartikel 34 die Möglichkeit, die Auswanderung staatlich zu steuern bzw. zu regeln. Auf dem Höhepunkt der Auswanderungswelle im Jahr 1880 tritt ein entsprechendes Bundesgesetz in Kraft.
In den Jahrzehnten zuvor waren zahlreiche Auswanderungsagenturen gegründet worden, die völlig unreguliert blieben – und nicht alle von ihnen arbeiteten seriös. Nun richtet der Bundesrat eigens ein Amt zu ihrer Kontrolle ein. Verträge mit Alten, Kranken und Minderjährigen werden verboten – denn diese erhalten in den Zielländern in der Regel keine Aufenthaltsbewilligung und fallen dann den Schweizer Konsulaten vor Ort zur Last. Neu sollen auch menschenwürdige Überfahrten und die Betreuung der Auswanderer am Zielort gewährleistet werden.
Herausforderungen in der neuen Heimat
Bis heute ist Auswandern eine Entscheidung mit vielen Unwägbarkeiten – vor über 100 Jahren galt das umso mehr. Schon die Fahrt nach Übersee konnte Monate dauern und war oft gefährlich. Auf den Schiffen herrschten raue Bedingungen. Am Zielort fehlte dann häufig das nötige Kapital (oder es war schneller weg, als gedacht). Auswanderer mussten aufpassen, dass vorgebliche Helfer sie nicht über den Tisch zogen – denn auch die Sprache und die Unkenntnis der Rechtslage waren hohe Hürden.
Doch selbst, wer den Start schaffte, sah sich mit allerlei Herausforderungen konfrontiert – gerade in der Landwirtschaft. In den USA liessen sich viele Schweizer Bauern in den Präriegebieten des Mittleren Westens nieder. Auf ihre bisherigen Erfahrungen in der Schweizer Berglandwirtschaft konnten sie dabei nicht zurückgreifen. Die Bewirtschaftung der Böden war hier ganz anders, und die Bauernfamilien mussten sich an extreme Wetterbedingungen anpassen.
Einen Einblick aus dem Leben in jener Zeit gibt etwa ein Brief von Johann Jacobi, ehemaliger Pächter des Gondinischen Guts in Zillis (GR). Er schreibt am 10. Mai 1859:
«Es geht aber alles ganz anders zu als bei uns, es ist aber nicht wie in der Schweiz. Kühe hat man auch, keine Schweizerkühe, elende, miserable, rothe Kühe, an denen man keine Freude haben könnte, wenn man auch hundert hätte. Auch sieht man keine Wiesen wie bei uns, nur magere Wiesen (…).
Überhaupt, die ganzen Geschäfte hier in Amerika, so viel ich auf der Reise und hier gesehen habe, gefällt mir nichts. Und es muss sehr ändern, sonst werde ich nie gerne in Amerika sein und werde, so bald ich viel Geld habe, wieder zu euch in unsere liebe Schweiz zurückkehren.»*
Das Vermächtnis der Schweizer Auswanderer
Wie viele tatsächlich den Weg zurück antraten, ist nicht bekannt. Die meisten blieben wohl in der Fremde – die finanziellen Mittel reichten meist nicht aus, um in die Schweiz zurückzukehren. Die Spuren dieser Auswanderer finden sich deshalb in aller Welt. Ortschaften wie New Geneva (Pennsylvania, USA), Nova Friburgo (Rio de Janeiro, Brasilien), New Glarus (Wisconsin, USA) oder Berne (Indiana, USA) zeugen von der frühen Auswanderungsgeschichte der Schweiz – und von der Liebe der Schweizer zu ihrer Herkunft. Bis heute erinnern sich ihre Nachkommen an die Geschichten ihrer Vorfahren und bewahren mit Stolz die überlieferten Traditionen und Werte (siehe auch Artikel rechts). So treffen sich Schweizerinnen und Schweizer in vielen Teilen der Welt zur 1. August-Feier oder zum Samichlaus-Höck. Dort gibt es dann allerlei Schmackhaftes aus der alten Heimat. Und so manche Jodlergruppe hält durch die Gemeinschaft und den Gesang wenigstens einmal die Woche die Verbindung zur alten Heimat aufrecht.
MARTINA GRAF (LID.CH) / MARK POLLMEIER
* Der zitierte Briefauszug stammt aus Peter Michael-Caflischs Buch «Hier hört man keine Glocken» – Geschichte der Schamser Auswanderung nach Amerika und Australien.
«Das Märit» im Osten der USA
GESCHICHTE Mitte des 19. Jahrhunderts wanderten Schweizer aus dem Kanton Bern in den US-Bundesstaat Indiana aus und gründeten dort eine Siedlung – und zwar so erfolgreich, dass der kleine Ort bald weitere Europäer anzog.
MARK POLLMEIER
1852 kamen deutschsprachige Mennoniten aus dem Berner Jura nach Indiana. Mit dem Schiff «Hahnemann» waren sie zunächst von Le Havre nach New York gesegelt, nicht alle Reisenden überlebten die strapaziöse Überfahrt. Von New York aus ging es 650 Meilen geradeaus nach Westen. Indiana, unweit der heutigen kanadischen Grenze, war damals ein klassisches Einwanderungsland für Siedler aus Europa und zog vor allem deutschsprachige Auswanderer an.
Mitten im Nirgendwo gründeten die Schweizer einen kleinen Ort, den sie nach ihrer alten Heimat Berne nannten. Sie lebten überwiegend von Viehzucht und Landwirtschaft. Wegen der grossen Distanzen war Handel jedoch nur begrenzt möglich.
Das änderte sich, als man begann, das Land mit der Eisenbahn zu erschliessen. In Berne begriff man schnell, welche Chancen das neue Transportmittel bieten würde. Und so schlugen die Farmer Johann «John» Hilty und Abraham Lehmann der Grand Rapids and Indiana Eisenbahngesellschaft vor, nahe ihres Wohnorts einen Bahnhof zu bauen. Das Land dafür wollten sie ihnen gratis zur Verfügung stellen. Die Bahngesellschaft willigte ein, und an Weihnachten 1871, nicht einmal 20 Jahre nach der Gründung des Orts, wurde der neue Bahnhof mit der Ankunft des ersten Zuges eingeweiht.
Berne boomt
Wie erwartet, begann sich der Ort durch den Anschluss ans Eisenbahnnetz rasch zu entwickeln. Bereits 1872 wurde eine Poststelle in Berne eröffnet, neue Gebäude entstanden – vor allem auf Betreiben derjenigen, die sich schon für den Bahnhof starkgemacht hatten.
Die gute Infrastruktur sprach sich herum und zog bald weitere Siedler aus der Schweiz, aus Deutschland und aus englischsprachigen Ländern an. 1887 zählte Berne bereits über 2500 Einwohner, 1895 war die Gemeinde die zweitgrösste Stadt im Verwaltungskreis. Aktuell leben in Berne, Indiana, gut 4000 Menschen. Die Schweizer Wurzeln der Kleinstadt sind bis heute unverkennbar. Die Bürgermeister tragen Namen wie Balsiger oder Neuenschwander. Jeweils am letzten Wochenende im Juli findet eine Art Schweizer Nationalfeier statt, ein Volksfest, das Tausende BesucherInnen anlockt. Die Innenstadt wird an diesem Anlass für den Verkehr gesperrt, stattdessen säumen zahlreiche Händler, Imbisswagen, Musikgruppen und Fahrgeschäfte die Hauptstrasse.
Noch immer spricht man Berndeutsch
Auch andere Anlässe im Jahreslauf erinnern an die Schweizer Herkunft vieler Bewohner. So findet alljährlich der Swiss Days Race statt, ein Laufsportevent für alle Generationen. Und der Markt, auf dem von Mai bis Oktober jeden Samstag regionale Produkte verkauft werden, heisst bis heute «Das Märit».
Eine Besonderheit der Gemeinde ist der hohe Anteil an Amischen, einer Glaubensgemeinschaft, die auf den aus dem Simmental stammenden Prediger Jakob Ammann zurückgeht. Viele der Amischen sprechen bis heute ein altes Berndeutsch, entweder als Erst- oder als Zweitsprache.