«Eine lange, lange, lange Versammlung»
28.11.2023 AdelbodenIn dreieinhalb Stunden setzten sich 486 Stimmberechtigte mit zwölf Traktanden auseinander – und wurden dabei nicht müde, ihre Anliegen zu formulieren. Nebst der alpinen Solaranlage sorgte überraschenderweise auch das Feuerwehrreglement für ...
In dreieinhalb Stunden setzten sich 486 Stimmberechtigte mit zwölf Traktanden auseinander – und wurden dabei nicht müde, ihre Anliegen zu formulieren. Nebst der alpinen Solaranlage sorgte überraschenderweise auch das Feuerwehrreglement für Diskussionen.
BIANCA HÜSING
«Mehrzweckraum.» Viel mehr musste Gemeindepräsident Roger Galli nicht sagen, um die Stimmung nach zähen Diskussionen wieder zu heben. Das Wort war der Running Gag des Abends und ein Garant für Gelächter. Weil die Turnhalle zu klein für 486 Stimmberechtigte und 17 Gäste war, hatte man ein zusätzliches Zimmer in der oberen Etage bestuhlt. Die dort Sitzenden bekamen dank Beamer und Lautsprecher alles mit und wurden von Galli stets mit einem witzelnden Unterton integriert («Der Mehrzweckraum hat nichts zu sagen?»; «Jetzt meldet sich auch mal der Mehrzweckraum!»).
In humoristischer Hinsicht hatte Galli also einen dankbaren Job, in organisatorischer nicht so sehr. Die Versammlung forderte ihn mit diversen mehr oder weniger seriösen Anträgen und stellte gleich zu Beginn die Traktandenliste auf den Kopf. Um wach und konzentriert über die «Direttissima» und die Photovoltaikanlage Schwandfäl diskutieren zu können, zogen die Stimmberechtigten diese Geschäfte vor – wohl wissend, dass ihnen ein langer Abend bevorstehen würde.
«Das wäre für uns alle ein Riesenvorteil»
«400 sind bestimmt wegen diesem Traktandum hergekommen», merkte Roger Galli halbernst an, als die Solaranlage an der Reihe war. Tatsächlich entbrannte bei diesem Geschäft die lebhafteste Diskussion. 13 Wortbeiträge löste es aus, nur 5 davon waren bestärkend. Dabei hatte sich Gemeinderätin Beatrice Germann alle Mühe gegeben, die Vorzüge der Solaranlage darzulegen. Adelboden verfüge nicht nur über einen der geeignetsten Standorte dafür, sondern könne auch in besonderem Masse davon profitieren. «Wir müssten 40 Prozent weniger Strom auf dem schwankenden Markt zukaufen. Das wäre für uns alle ein Riesenvorteil.» Energie sei im Wintersportort Adelboden schliesslich besonders teuer.
Als Vertreter der Bauherrschaft warb freilich auch LWA-Geschäftsführer Pascal von Allmen für die PV-Anlage. Man abeite seit einem knappen Jahr daran und habe von Beginn an die kantonalen Fachstellen ins Bild gesetzt – einerseits, um das Baubewilligungsverfahren zu erleichtern und andererseits, um der Öffentlichkeit ein ausgereiftes Projekt präsentieren zu können.
Der Nachteil dieses Vorgehens zeigte sich bei der anschliessenden Diskussion: Die Öffentlichkeit weiss erst seit Kurzem von den Plänen und ist entsprechend skeptisch.
13 Voten, Applaus auf beiden Seiten
Ein Anwohner wies auf die Instabilität der Alp Schwandfäl hin, die sich neulich erst wieder bei einem Erdrutsch gezeigt habe. Die Projektverantwortlichen beteuerten, dass sie um die Gefahren wüssten und diese seriös abklären liessen. Der Anwohner blieb davon jedoch unbeeindruckt. Ihn interessiere nur, wer für allfällige Schäden aufkommen werde, «der Rest ist mir gleich!» Nach einigem Hin und Her lieferte Pascal von Allmen die pragmatischste Antwort: Die Haftungsfrage könne man erst im konkreten Einzelfall klären. «Wenn sich herausstellt, dass wir als Eigentümer für Schäden verantwortlich sind, werden wir auch zahlen müssen.» Ein anderer Votant erinnerte an das Hochwasser 2011, das die Strasse im Mitholztunnel zwei Jahre nach dessen Wiedereröffnung zerstörte. «Die Anwohner hatten vor dem schwammigen Boden gewarnt, aber für die Behörden war alles in Ordnung.» Der Bau sei ein ebensolcher Schnellschuss gewesen wie nun die geplante Solaranlage.
Über den Teller- respektive Talrand hinaus blickte ein jüngerer Versammlungsteilnehmer: «Woher kommen die Rohstoffe, wer baut für uns das Silizium ab?» Diese Frage beantwortete der anwesende BKW-Vertreter zwar nicht direkt. Er betonte aber, dass die Anlage in der Schweiz gebaut werde, zu 90 Prozent aus rezyklierbarem Material bestehe und dass man «nicht das günstigste Produkt» nehmen werde.
Nebst den Kritikern meldeten sich auch einige Befürworter zu Wort. «Das Dorf ist im Winter voller Gäste und braucht Strom – übrigens auch für die Landwirtschaft. Warum sollte Adelboden nicht mal zu den Vorreitern gehören?», fragte einer. Ein anderer forderte die jüngeren Stimmberechtigten dazu auf, an die energetisch ungewisse Zukunft zu denken: «Vielleicht friert ihr in 25 Jahren ...»
Da beide Seiten gleichermassen Applaus bekamen, hätte wohl niemand eine Wette über das Abstimmungsresultat abschliessen wollen. Dieses fiel dann aber erstaunlich deutlich aus: 339 stimmten für die Solaranlage, 111 dagegen. Damit bekam die Bauherrschaft grünes Licht, das Projekt weiterzuverfolgen. Allerdings auch nicht viel mehr als das: Nach diesem Grundsatzentscheid gibt es noch allerhand zu klären – etwa das Einverständnis der Alpschaft, die nach eigenen Aussagen «nicht traurig wäre», wenn die Anlage nicht gebaut würde.
Direktes Ja zur Direktverbindung
Sehr viel schneller gingen die Überbauungsordnungen im Zusammenhang mit der «Direttissima» über die Bühne – obwohl das Seilbahnprojekt nie unumstritten und gerade in der Anfangszeit heftig kritisiert worden war. Anders als bei der Solaranlage hatten die AdelbodnerInnen jedoch viele Jahre Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen und sich eingehend mit den Plänen zu befassen. Allfällige Einwände konnten sie an diversen Veranstaltungen und im Rahmen der Mitwirkung kundtun. Schon vor der Gemeindeversammlung waren die meisten Einsprachen gegen die beiden Überbauungsordnungen bereinigt. Entsprechend deutlich fiel das Ja am Freitagabend aus. Damit sind die Planungsgrundlagen nun zumindest vonseiten der Gemeinde final abgesegnet – fehlen nur noch Bund und Kanton.
Grundmisstrauen beim Thema Bauen
Das dritte Grossprojekt des Abends, die Regionale Bauverwaltung Frutigen, nahm dann wieder mehr Zeit in Anspruch. Das lag zum Teil an den Ausführungen des Obmanns Markus Gempeler. Mehrmals betonte er, dass die Gemeinde ihre Eigenständigkeit wahren werde («In Frutigen entscheiden sie nichts») und dass es lediglich um die Auslagerung administrativer Aufgaben gehe («Wenn wir ehrlich sind, machen wir das in Adelboden gezwungenermassen schon seit über einem Jahr»). Trotzdem offenbarten die anschliessenden Wortbeiträge, dass beim Thema Bauen ein Grundmisstrauen herrscht – gegenüber Bauverwaltern, dem Kanton und sonst jedem, der in diesem Bereich etwas zu sagen hat. Aus dem Mehrzweckraum kam der Antrag, dass die Regionale Bauverwaltung möglichst alle Gesuche selbstständig bearbeiten solle, also ohne Beizug des Regierungsstatthalteramts und des AGR. An dieser Stelle meldete sich ein Gast zu Wort, der die Verwaltungsabläufe von Berufs wegen bestens kennt. Dass die Behörden beigezogen würden, entspreche geltendem Recht. «Wer das ändern will, kann ja in die Politik gehen.» Der Antrag kam danach gar nicht erst zur Abstimmung – und Adelbodens Beteiligung an der Regionalen Bauverwaltung wurde mit klarem Mehr angenommen.
Keine doppelte Dienstabgabe
Als Überraschungstraktandum erwies sich das Feuerwehrreglement. Eigentlich wollte der Gemeinderat durch ein paar Formulierungsänderungen Klarheit schaffen und Interpretationsspielräume beseitigen. In den letzten Jahren sind offenbar auch die EhepartnerInnen aktiver Feuerwehrleute von der Ersatzabgabepflicht befreit worden, obwohl es dafür keine rechtliche Grundlage gab. Im neuen Reglement sollte nun explizit festgehalten werden, dass EhepartnerInnen nicht von der Ersatzabgabepflicht befreit sind. Dies wollte die Gemeindeversammlung jedoch nicht mittragen. Ein Feuerwehrmann schilderte, was die Ehepartner-Dienstabgabepflicht in seinem Fall bedeuten würde: «Da meine Frau kein Einkommen hat, müsste ich ihre Abgabe zahlen – obwohl ich schon aktiven Feuerwehrdienst leiste.» Die Versammlung beantragte schliesslich, Eheleute von der Abgabe zu befreien. Dieser und zwei weitere Änderungsanträge (Umformulierungen) wurden deutlich angenommen.
Gegen 23 Uhr hatte der künftige Obmann Willy Schranz noch die undankbare Aufgabe, einer müder werdenden Versammlung Zahlen zu präsentieren. Das Budget warf denn auch keine Fragen mehr auf und wurde mitsamt dem geplanten Defizit von knapp 180 000 Franken abgesegnet. Die Wahl der Revisionsstelle und der Kommissionsmitglieder war nur noch eine Sache von wenigen Minuten.
Um 23.31 Uhr war schliesslich klar, dass Roger Galli sein anfängliches «Versprechen» an die 21 anwesenden JungbürgerInnen gehalten hat: «Das wird eine lange, lange, lange Versammlung.»
Bewilligt wurde ausserdem ein Kredit in Höhe von 280 000 Franken für sofortige Brandschutzmassnahmen im Schulhaus Ausserschwand.
Respektvolle Ansprachen zum Abschied
Zu vorgerückter Stunde hielt Gemeinderatspräsident Markus Gempeler noch eine sehr respektvolle Ansprache für all jene, die nach langem Dienst an der Gemeinde verabschiedet wurden. «Es ist zwar schon spät, aber nach allem, was sie für uns getan haben, werden wir ja wohl noch zehn Minuten für ihre verdiente Ehrung aufbringen können.» Zu den Verabschiedeten gehörten der Feuerwehr-Ausbildungschef Martin Inniger und der GFO-Chef Rolf Kramer. Als Beispiel für die Wichtigkeit eines Gemeindeführungsorgans (GFO) nannte Gempeler die Adelbodenstrasse, die kurz vor dem Weltcup 2018 von einem Murgang beschädigt wurde – nicht ahnend, dass etwas Vergleichbares wenige Stunden nach der Gemeindeversammlung wieder passieren würde.
Auch die ausscheidenden GemeinderätInnen Beatrice Germann, Esther Jungen, Anton Oester und Willy Schranz wurden von Gempeler ausführlich für ihren langjährigen Einsatz und die Teilnahme an unzähligen Sitzungen gelobt. Als Willy Schranz Obmann Markus Gempeler verabschiedete, zeigte sich deutlich, wie sehr dieser von seinen RatskollegInnen respektiert wurde. Bei der Aufzählung von Gempelers Verdiensten bekannte Schranz: «Dem gerecht zu werden, bringt mich an meine Grenzen.»
HÜS
KOMMENTAR
Gelebte Demokratie
Die diesjährigen JungbürgerInnen hatten Glück: Sie durften einem sehr lebhaften Beispiel direkter Demokratie beiwohnen. Viele Adelbodner Innen brachten sich aktiv ein – auch solche, die noch nie zuvor an einer Versammlung gesprochen hatten. Besonders rege diskutiert wurde die Solaranlage Schwandfäl. Weil die Pläne erst seit Kurzem öffentlich sind, gab und gibt es verständlicherweise noch gewisse Vorbehalte. Wer etwa vor Hangrutschen und Murgängen warnte, dürfte sich nach dem jüngsten Ereignis an der Adelbodenstrasse bestätigt fühlen. Klar ist aber auch, dass sich solche Ereignisse infolge des Klimawandels häufen – und dass deshalb alles getan werden sollte, ihn einzudämmen. Adelboden ist einer der wenigen Standorte, an denen im grossen Stil erneuerbare Energie produziert werden kann. Ein netter Nebeneffekt: Mit der geplanten Anlage kann das Dorf sich zu einem markanten Anteil selbst versorgen und dadurch stabilere Strompreise erzielen.
Es ist gut, dass die Anwohner ihre Sorgen geäussert haben. Es ist wichtig, dass die Bauherrschaft die Risiken seriös einschätzen lässt. Und es ist erfreulich, dass die Gemeindeversammlung ihr dafür einen Vertrauensvorschuss gegeben hat.
BIANCA HÜSING
B.HUESING@FRUTIGLAENDER.CH