«Eine Million Minuten Klassenunterricht»
22.08.2025 PorträtEin ganzes Arbeitsleben an der Primarschule. 31 Jahre unterrichtete Silvia Zurbrügg im Schulhaus Oberfeld Frutigen als Mehrklassenlehrerin. Zählt man ihre Unterrichtszeit davor hinzu, stand die Frutigerin 44 Jahre vor unterschiedlichsten Schulklassen oder etwa eine Million ...
Ein ganzes Arbeitsleben an der Primarschule. 31 Jahre unterrichtete Silvia Zurbrügg im Schulhaus Oberfeld Frutigen als Mehrklassenlehrerin. Zählt man ihre Unterrichtszeit davor hinzu, stand die Frutigerin 44 Jahre vor unterschiedlichsten Schulklassen oder etwa eine Million Minuten. Ende Juni war es soweit, Silvia Zurbrügg sagte dem Oberfeld - mit unzähligen Schulgeschichten im Gepäck – adieu und ging in Pension.
Das Schulhaus Oberfeld liegt idyllisch am Talhang im Frutiger Ortsteil Oberfeld-Prasten. Die ehemalige Wirkungsstätte von Silvia Zurbrügg beheimatet einen Kindergarten sowie die erste bis sechste Primarschulklasse. Wie oft in ländlichen Gegenden wird auch hier in Mehrklassen unterrichtet: Heisst, die Erst- bis DrittklässlerInnen und die Viert- bis SechstklässlerInnen lernen gemeinsam in je einem getrennten Schulzimmer. Der «Frutigländer» traf Silvia Zurbrügg Mitte August im Oberfelder-LehrerInnenzimmer. Ein herzlicher Empfang, man spürt sofort: die pensionierte Primarlehrerein fühlt sich dem hiesigen Schulbetrieb nach wie vor verbunden.
Auf Spurensuche
«Nach 31 Schuljahren hier im Oberfeld räumt man nicht einfach so das Schulpult, zu viele berührende Erlebnisse mit meinen ehemaligen SchülerInnen begleiten mich», sagt Silvia Zurbrügg. Auf die Frage, was ihr spontan zu ihren Unterrichtsjahren durch den Kopf geht, meint sie lachend: «Enge Beziehungen zu meinen SchülerInnen. Mit der Zeit das Kennenlernen von einer anderen und persönlicheren Seite her. Einblicke in viele Familien mit all ihren Geschichten. Theateraufführungen, Schulreisen und sonstige Veranstaltungen. Aber auch eine grosse Verantwortung und bisweilen schlaflosen Nächte. Die pädagogischen und gesellschaftlichen Veränderungen mit laufenden Anpassungen im Schulbetrieb, mein Berufsleben als Lehrerin kann schwerlich in Worte gefasst werden».
Früher war es nicht besser, aber anders
Der Blick auf die 45 Berufsjahre von Silvia Zurbrügg ist eine Zeitreise. Sie erinnert sich gut an ihre erste Anstellung 1981 im Schulhaus Vorderfultigen. Da lehrte sie die Schnürlischrift, legte grossen Wert auf das Kopfrechnen und benutzte Kreide an Wandtafeln aus Schiefer. Fremdsprachen und Informatik waren kein Thema. Die Schule verfügte über einen Oberlehrer mit einer klaren Hierarchie. Und heute? Die SchülerInnen lernen die Deutschschweizer Basisschrift und das Tastaturschreiben. Das Kopfrechnen hat eine untergeordnetere Bedeutung, vielmehr setzt man auf das Erlernen verschiedener Rechenmethoden. Frühfranzösisch und Informatik sind integriert.
Kreide und Schiefertafel wurden durch Beamer und Magnetwand ergänzt, eine Schulleitung zeichnet heute für mehrere Schulhäuser verantwortlich. Silvia Zurbrügg präzisiert: «Zu Beginn hatte ich die alleinige Klassenverantwortung in allen Belangen. Heute erhält man bei Bedarf Unterstützung durch Fachpersonen wie beispielsweise HeilpädagogInnen oder dem Schulsozialdienst. Und der Kontakt mit den Eltern ist zunehmend enger».
Was stark zugenommen hat sind Administration und Bürokratie, ein Zeitfresser für das LehrerInnenkollegium. Zurbrügg wagt einen Blick in die Glaskugel: «Der Beruf wird sich weiter Richtung Lernbegleitung entwickeln. Die Individualisierung des Schulunterrichts schreitet voran und orientiert sich zunehmend an den unterschiedlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten der SchülerInnen».
«Chönter ned wiiter cho Schuel gäh?»
Silvia Zurbrügg würde ihren Beruf wieder wählen. Es bleibt eine dankbare Arbeit mit Gestaltungsspielraum und Kreativität. «Meine Arbeit mit den SchülerInnen war immer wieder anders und bereichernd. So lernt man seine Klasse beispielsweise bei den Projektarbeiten neu kennen. Wie bei einer Theateraufführung zu Anne Bäbi Jowäger, aus dem Roman von Jeremias Gotthelf. Ein richtiger Chrampf mit wochenlangem Üben. Der Applaus belohnte alle, man sah nur zufriedene Gesichter auf und vor der Bühne», sagt sie stolz. Die frisch pensionierte Lehrerin bleibt Realistin und wird einiges auch nicht vermissen.
Wie das Thema Unpünktlichkeit und das fortwährende Feilschen von SchülerInnen um Minuten. Auch ist ihr im Unterricht über all die Jahre aufgefallen, dass die Konzentrationsfähigkeit, das Zuhören und die Selbständigkeit der Kinder spürbar nachgelassen haben. Die Frage, wo diese Tendenz hinführt, darf gestellt werden.
Kurz vor ihrem letzten Arbeitstag fragte eine Zweitklässlerin: «Frou Zurbrügg, chönter ned wiiter cho Schuel gäh?» Dem gibt es nichts weiter hinzuzufügen.
GERHARD KAPPHAHN
ZUR PERSON
Silvia Zurbrügg ist 64-jährig und mit Erich verheiratet. Sie haben drei erwachsene Töchter, fünf Enkelkinder und wohnen in Frutigen. Ihre Kindheit und Jugendjahre verbrachte Silvia Zurbrügg ebenfalls in Frutigen. Nach Abschluss der Sekundarschule wechselte sie 1977 ans Lehrerinnen- und Lehrerseminar Spiez, wo sie 1981 ihre pädagogische Ausbildung abschloss. Ihre erste Anstellung als junge Lehrerin führte sie an die Primarschule Vorderfultigen in der Gemeinde Rüeggisberg, dort unterrichtete sie die 1. bis 4. Klasse. Ein Jahr später, im Jahr 1982, kehrte sie ins Frutigland zurück und übernahm eine Anstellung an der Primarschule Elsigbach. Es folgte 1986 aus familiären Gründen eine achtjährige Auszeit. Jedoch übernahm Silvia Zurbrügg während diesen Jahren einige Stellvertretungen und blieb damit dem Schulbetrieb erhalten. 1994 erfolgte ihr Wiedereinstieg, dies an der Frutiger Primarschule Oberfeld. Dort wirkte sie 31 Jahre als Lehrkraft bis zur Pensionierung im Juni 2025. Silvia Zurbrügg weiss ihre nun neu gewonnene Freizeit aktiv einzusetzen. Es gibt viel zu tun, sei dies beim Handarbeiten, der Gartenarbeit, beim Skifahren oder beim Wandern. Zudem besitzt sie ein besonderes Faible für das Frutigdeutsch. Sie führt im Rahmen der Kulturgutstiftung Frutigland Lesungen durch.