Eine überbordende Debatte zur Zukunft der Schweiz
30.09.2025 PolitikAm 26. September ging die Herbstsession des Nationalrates zu Ende, und die gigantische Debatte über die quantitative Beschränkung der Zuwanderung in die Schweiz wäre fast in einer tsunamiartigen Rednerflut «ertrunken». Freilich ging es um nichts weniger als um ...
Am 26. September ging die Herbstsession des Nationalrates zu Ende, und die gigantische Debatte über die quantitative Beschränkung der Zuwanderung in die Schweiz wäre fast in einer tsunamiartigen Rednerflut «ertrunken». Freilich ging es um nichts weniger als um die Zukunft der Schweiz, und das konnte man auch in der langen Debatte und dem ihr zugrunde liegenden Antrag ohne Weiteres erkennen. Ohne Zweifel: Die Debatte allein war schon ein Gewinn.
MARTIN NATTERER
Und Ehre, wem Ehre gebührt: Quer durch das Parteien- und Sprachenspektrum wurden keineswegs nur oberflächliche Parolen ausgetauscht, sondern – wie zur Aufheiterung der Abgeordneten – auch Humorvolles und Nachdenkliches zum Besten gegeben.
Wobei «kleine Gags» immer das Gemüt erheitern dürfen: Wir erfuhren zum Beispiel, dass die Schweiz ein «tolles Land ist, in dem im Jahr 2024 insgesamt 13,2 Millionen Hühner als Nutztiere» gehalten wurden. Ein anderer Nationalrat unterstrich seine «Erträglichkeitsschwelle» durch das zunächst kommentarlose Verlesen einer original Oberländer Verkehrsnachricht aus der laufenden Woche. Sie dauerte gut zwei Minuten. Dann eine dramatische Pause, dann ein leidenschaftliches Votum – rhetorisch gekonnt. Nein, es gab mehr, und zwar von allen Parteien: wirklich Anrührendes, Tiefschürfendes und Fundamentalpolitisches in allen Sprachen und aus allen Richtungen. Der Antrag der SVP zur «10-Millionen-Schweiz» wurde am Ende samt einem Gegenvorschlag aus den Reihen der Mitte-Fraktion abgelehnt. Doch sind die damit verbundenen Fragen damit gelöst? War das nicht ein wenig wie die Buben, die – um männlich zu wirken – noch beim ersten Schneefall und Frost demonstrativ die kurzen Hosen tragen? Denn jenseits der gegenwärtigen persönlichen Betroffenheit werden die damit verbundenen Fragen auch die Zukunft unserer Region prägen. Doch hier liess schon die schiere Dimension der Debatte der ungeheuren Vielschichtigkeit der Fragen keinen Raum. Das war optisch sichtbar, denn bisweilen waren von der Soll-Stärke von 200 ParlamentarierInnen gerade noch 20 an ihren Plätzen – manche abwesend, manche bei etwas anderem anwesend, als die um Leidenschaft und rhetorische Prägnanz ringenden RednerInnen es sich gewünscht hätten. Greifen wir ein Thema als Beispiel aus der Vielzahl der erkennbar relevanten Faktoren heraus: Dichtestress. Alpine Adler empfinden schon Dichtestress, wenn in ihr rund 40 Quadratkilometer grosses Revier ein anderes Adlerpaar eindringt. Schwarmvögel aller Art sind das pure Gegenteil. Über-Verkehr, individuell wie öffentlich, ist jedoch ein ernstes Thema, das wir nicht «weg-abstimmen» können.
«Welche Schweiz wollen wir?»
Es wäre, so mein «Standpunkt», eine notwendige Vorbereitung gewesen, wenn man zur Grundlage der Debatte eine schweizweit greifende, mehrjährige Untersuchung zur Entwicklung nationaler Parameter gelegt hätte. Zudem wäre eine Szenario-Evaluation nötig gewesen, wie sich wesentliche Wirkgrössen der nationalen Entwicklung auf die politische und wirtschaftliche «Bewirtschaftbarkeit» der Schweiz auswirken würden. Und es hätte viel geholfen, wenn man erst dann die Frage gestellt hätte: «Welche Schweiz wollen wir?». – Viel «Faktendreschen» der RednerInnen hätte man sich da ersparen können.
Kleines Beispiel: Zuwanderung ist bei weitem nicht das Einzige, was spürbaren «Dichtestress» verursacht. Übertourismus ist es auch. Da muss man nicht erst nach Grindelwald und Lauterbrunnen blicken.
Verkehr dicht an dicht: «Wer fährt denn da?»
Viele RednerInnen haben aber zu Recht darauf hingewiesen, dass es nicht nur «die anderen» sind, die an unseren Problemen Schuld tragen. Wir sind es auch zu einem erkennbaren Mass selbst. Dies gilt auch für den Dichtestress. Ein Beispiel aus dem viel gescholtenen Strassenverkehr: Der Fahrzeugbestand hat nach Informationen der Vereinigung der Strassenverkehrsämter (asa) in der Schweiz im Jahr 2024 gegenüber dem Vorjahr um 0,93 Prozent zugenommen. Insgesamt waren 7 049 287 Fahrzeuge zugelassen. Die asa erhebt den Motorfahrzeugpark auf Basis des Kontrollschildes und nicht nach der Adresse des Fahrzeughalters oder der Fahrzeughalterin. Die meisten Fahrzeuge haben Zürcher Nummernschilder (1 036 861). An zweiter Stelle rangiert der Kanton Bern (846 033).
Also: Das sind im weiteren Sinne «wir». Ähnliches über den Fahrzeugbestand hört man vom Bund selbst, obwohl die Zählweise etwas abzuweichen scheint: Das Bundesamt für Statistik gab kürzlich bekannt: «Der Bestand der Strassenmotorfahrzeuge (ohne Motorfahrräder) ist zwischen den Jahren 2000 und 2024 um 42 Prozent auf 6,5 Millionen angestiegen.» Die Zahlen weichen ein wenig voneinander ab, aber die Tendenz ist klar: Ein Anstieg der Schweizer Motorisierung von mindestens 42 Prozent in 24 Jahren. Bereinigt man das um den parallelen Anstieg der im gleichen Zeitraum Zugewanderten, so bleibt immer noch die Tendenz, dass die in der Schweiz Ansässigen immer mehr Fahrzeuge anschaffen. Vereinfacht gesagt: Es sind die eigenen Fahrzeuge, die die Strassen verstopfen. Wir haben einfach deutlich mehr als ein Fahrzeug pro Haushalt.
«Unsere Identität steht in Frage»
Mit gutem Recht haben in der Debatte um die 10-Millionen-Schweiz viele RednerInnen – verständlicherweise auch jene aus den Grenzkantonen Tessin, Genf oder Aargau – darauf hingewiesen, dass es im Kern gar nicht so sehr um eine Zahl («10 Millionen») geht, sondern um das Lebensmodell, das wir in der Schweiz verfolgen.
Es ist dieses Lebensmodell, das wir innerlich zu einer Vorstellung der Schweiz «zusammenbauen», also synthetisieren, wie man in der Chemie sagt. Das wäre die Aufgabe.
In den ständigen Veränderungen, denen die Schweiz und alle BürgerInnen ausgesetzt sind, muss dieses «Lebensmodell Schweiz» immer wieder nachjustiert, immer wieder überarbeitet werden. Und immer wieder steht damit auch unser Selbstverständnis in Frage.
Während die extremen Positionen zu diesem Thema bekannt sind, schien eine «Stimme der Mitte» eine sprichwörtliche «Ver-Mittlung» vorzuschlagen, ohne in einen vereinfachenden Kompromiss zu verfallen. Es war der Berner Marc Jost, der in seinem der Redaktion wörtlich vorliegenden Votum am vorletzten Tag der Session für einen Gegenvorschlag plädierte, der jedoch vom Nationalrat am Ende abgelehnt wurde. Er wolle, sagte Marc Jost, «die Herausforderungen der Zuwanderung meistern, ohne die bewährten bilateralen Beziehungen zur Europäischen Union zu opfern».
Dazu gehöre ein Bündel von Gestaltungsmassnahmen, die er im Einzelnen auflistete, was hier aber zu weit führen würde. Abschliessend war ihm aber eines wichtig: Nur unter Ausübung solcher permanenten Anpassungsmassnahmen könne ein Fortbestand der Schweiz gelingen: «So gestalten wir die Zukunft vorausschauend, ohne die Grundlagen unseres Wohlstands und unserer Sicherheit zu gefährden.»
Nochmals von vorn
Jost verlas seinen Text zum Teil in Französisch (ohne dafür von sich aus eine deutsche Übersetzung zu liefern) und liess so vielleicht auch ein wenig durchscheinen, wie er zur Debatte um die Zweisprachigkeit steht. Aber dies ist ein anderes Thema – und doch berührt es die Frage: «Welche Schweiz wollen wir?» Der Nationalrat hat am Ende mit erheblicher Mehrheit die grosse Debatte um die quantitative Obergrenze der Zuwanderung ebenso abgelehnt wie den im Wesentlichen von der Mitte getragenen Gegenvorschlag.
Doch man kann getrost sein: Echte Probleme sind «treu» – sie bleiben, wenn man sie nicht proaktiv löst. Es ist mein Standpunkt, dass wir im Gegenzug aber zumindest noch mittelfristig die echte Chance haben werden, die Frage erneut zu stellen: «Welche Schweiz wollen wir»? Um sie dann auch zu lösen.